Hans Näf Leben und Wirken
Lebensgeschichte
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Die ersten 7 Jahre
in der "Heimat" in
Wolhusen
In der Klosterschule
Engelberg
1. bis 8. Klasse
Kriens Alpenstrasse
ab Ostern 1931
1948 - 52 Studium
an der Universität
Basel und die
grosse Liebe
1946/47 zwei
Semester in Paris
Militär
1945/46
Familienleben
1945/46 Studium
an der Universität
Zürich
Die Zeit nach 1959
Schulpsychologe in
Basel 1959 - 73
Meine eigene
Familie in Meggen
Meine Zeit als
Sekundarlehrer
Bergsteigen und
Skifahren
Erlebte
Schulgeschichte
In der Klosterschule Engelberg, 1. bis 8. Klasse Gymnasium 1937 - 45
Wenn ich heute an Engelberg denke, sehe ich als Erstes die Berge rings um das Tal, die in mir heute noch wie damals Freude und Bewunderung erregen. Man kann sich um 360 Grad drehen und immer wieder Berge bestaunen: Im Norden eine breite Mauer wie in den Dolomiten, im Osten die Zähne des grossen Spannorts, im Süden die runden Formen des Titlis mit (vorläufig) ewigem Schnee. Als ich in den oberen Klassen war, fing ich an, diese Bergvielfalt nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen zu sehen. Meistens waren die Berge vor allem zum Skifahren und als Ausflugsziele interessant, Kopf und Herz waren damals mehr auf Aktion eingestellt als auf Kontemplation.
Die neue Ordnung
Mit dem Eintritt ins Gymnasium fing ein gänzlich neues Leben an. Schon vorher, zu Hause, gab es feste Zeiten für Aufstehen, in die Schule gehen, Aufgaben machen, zum Essen erscheinen, aber dazwischen immer wieder Lücken, wo ich nach Lust und Laune leben konnte. Solche gab’s auch im Kollegium, wie das Internat genannt wurde. In dieser „Freizeit“ konnte man sich innerhalb der Klostermauern weitgehend frei bewegen, durfte reden, lesen, nichts tun, spielen. In der Hauskapelle beten oder im Studiensaal Aufgaben machen, war natürlich erlaubt. Die Wechsel der in den Hausregeln vorgeschriebenen Tätigkeiten wurden immer durch schrilles, im ganzen "Kollegi" hörbares Läuten angezeigt:
Werktags Aufstehen um 5:10 Uhr, Waschen, Morgengebet und Studium, das hiess Aufgaben machen, Prüfungen vorbereiten (freie Lektüre brauchte eine Spezialbewilligung, die nur sehr gute Schüler erhielten) bis zum Frühstück um 07:00 Uhr, nachher Besuch der Messe, dann Schule von 08:30 bis 11:30 Uhr, anschliessend, unter Silentium, Abmarsch in den Speisesaal im Klostergebäude, Tischgebet, Essen und schweigend die Tischlesung anhören. Erst nach Klingeln des Präfekten war freies Gespräch möglich, nach etwa 20 Minuten wieder Klingeln und Tischgebet, Rückmarsch ins Kollegiengebäude, frei an Werktagen im Minimum eine, maximal etwa drei Stunden, von 16 bis 18 Uhr Schule, anschliessend Nachtessen, dann etwa je eine Stunde frei und Studium bis 20:30 Uhr, Nachtgebet und ab in einen der Schlafsäle, mit je etwa 80 Betten, in oben offenen Kojen. Schweigen und Schlafen von 21 Uhr weg bis zum Morgengruss mit der Kuhglocke. Diese fand ich freundlicher als das mechanische Schrillen. Es fiel mir auch nicht schwer, sofort, noch im Halbschlaf, aus dem Bett zu jucken, mich Tempo Teufel anzuziehen und vom obersten Stock in den untersten zu rennen und nach einer Blitzwäsche mit der Spitzengruppe im Studiensaal einzulaufen. Dem morgendlichen Wettkampf verdankte ich es, dass ich 6 Jahre lang, jeden Morgen hellwach, auf das Kollegikarussell aufspringen konnte. Während der letzten zwei Jahre waren wir in Einzelzimmern untergebracht, da bereitete mir das frühe Aufstehen, wohl wegen des jahrelangen Trainings, auch keine Mühe, ausser im Winter 43/44, als die Heizung infolge geplatzer Rohre total ausfiel. Da die Kohle sehr knapp war, hatte man während der Weihnachtsferien im Lyzeum gar nicht oder zu wenig geheizt. Ich zog mich so warm wie möglich an, band mir die Bettdecke um den Leib und arbeitete für die Schule. Dabei plagten mich wochenlang grässlich juckende „Gfrörni“
(Frostbeulen). Das ging vielen Kameraden gleich und das linderte das Leiden offenbar, wie wir, nach meiner Erinnerung, auch unter der rigiden Disziplin, dem Mangel an Selbstbestimmung und Vergnügen nicht litten.
Der Hüter dieser strengen Ordnung war für mich in den ersten 6 Jahren Pater Magnus. In der 7. und 8. Klasse im Lyzeum, als wir zum Schlafen und Studieren Einzelzimmer hatten, war es Pater Fintan. Diesen beiden schuldeten wir Studenten, wie Mönche des Ordens, Gehorsam. Wir hatten auch, wie Benediktinermönche, schwarze Kutten zu tragen und wurden im Glaubenssystem der römisch-katholischen Kirche erzogen. Vom ersten Tag an besuchten wir Studenten, wie wir l2-Jährige genannt wurden, täglich die Messe, beteten gemeinsam vor dem Studium, vor und nach den Essen und vor dem Schlafengehen. Der Tagesabschluss in der Hauskapelle bestand in einer Gewissenserforschung, in der wir die Einhaltung der 10 Gebote, der Hausregeln und allgemeiner Tugenden wie Fleiss, Gehorsam, Selbstbeherrschung und anderes zu überprüfen hatten. Das geschah systematisch, zum Teil unter Anleitung durch den Präfekten. Dann kam das Fassen von Vorsätzen für den nächsten Tag, verbunden mit bewusstem Bereuen der Sünden und Nachlässigkeiten.
Erziehung und Selbsterziehung
Für mich war all das neu und interessant. Ich konnte problemlos mitmachen, auch beim Beten auf Lateinisch. Diese Rituale in der Gemeinschaft vermittelten uns Halt und Geborgenheit. Zweifel an diesen Massnahmen zur bewussten Selbsterziehung zum katholischen Glauben kamen mir erst gegen Ende der Klosterzeit. Ich war ein eifriger, gläubiger „Novize“, hatte aber nie den Wunsch, Mönch zu werden.
Nur das Beichten fiel mir manchmal schwer, denn ich hatte immer wieder Mühe, Sünden zu finden, gar schwere; leichte fand man eher. Kameraden hatten das gleiche Problem. Auch hatte ich jedes Mal das Gefühl, der Beichtvater sei nicht ganz zufrieden, er möchte etwas anderes hören. Später fand ich heraus, dass er offenbar nach sexuellen Problemen Ausschau hielt. Aber solche hatte ich vor dem 16. Altersjahr keine, und was einige Kameraden nicht in Ruhe liess, interessierte mich überhaupt nicht. Erst als ich bemerkte, dass mir an den Beinen und den Genitalien Haare wuchsen, war ich beunruhigt, schämte mich und hatte das Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung. Im Religionsunterricht wurden wir in der 3. oder 4. Klasse von Pater Magnus aufgeklärt. Ich erinnere mich nur noch an die heftigen Auseinandersetzungen, die das unter uns auslöste. Pater Magnus hatte den Geschlechtsverkehr als etwas sehr Lustvolles dargestellt, zugleich aber auch als Sünde und erst nach Verheiratung gestattet. Man dürfe auch keine sexuellen Gedanken haben, nicht darüber reden und vor allem nicht sich selber oder andere lüstern anschauen oder gar berühren. Mir hatten diese Stunden grossen Eindruck gemacht, und ich bemühte mich sehr, keusch und rein zu bleiben, was mir auch ohne übermässigen Aufwand gut gelang, bis ich mit 22 Jahren in Paris studierte. Zu der Zeit war ich gegenüber den katholischen Lehren dermassen skeptisch geworden, dass ich mir gestattete, mich selber zu befriedigen. Solange ich geglaubt hatte, dass Sexualität Sünde sei, wollte und konnte ich keusch sein. Heute staune ich, dass ich meine sexuellen Bedürfnisse, aus moralischer Überzeugung, so lange unterdrücken konnte. Die Zeit in der Klosterschule war offenbar ein sehr nachhaltiges Training in Selbstdisziplin gewesen. Ich habe dort auch gelernt, Faulheit, Müdigkeit, Fressgier zu überwinden, die Hausdisziplin konsequent einzuhalten, ausdauernd für die Schule zu lernen, nicht zu betrügen, nicht zu lügen, zu gehorchen.
Ich war ein Tugendbold aus Überzeugung und erlaubte mir ganz wenige Ausnahmen. Eine davon war das Bergsteigen. Mit „Lochi“, meinem Freund, unternahmen wir an Vakanztagen immer wieder Klettertouren, obwohl es verboten war und wir immer wieder mit Schulausschluss bedroht wurden. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir nie versprochen, es nicht wieder zu tun, sondern die Köpfe gesenkt und geschwiegen, wenn wir vor Gericht standen. Konsequent haben wir nichts versprochen, und das, zusammen mit unserem sonstigen guten Betragen, hat uns wahrscheinlich so viel Achtung eingetragen, dass wir nie „geschasst“ wurden. Lochi, mein alpiner Lehrmeister, ist nach dem Medizinstudium denn auch Bergführer geworden, wie sein Vater, und ich bin bis heute immer wieder in den Bergen unterwegs.
Neben der religiösen Bildung wurden wir auf die Maturität des Typus A (altsprachliche Richtung, mit Latein und Griechisch) vorbereitet. Im ersten Schuljahr hatten wir 7 Stunden Latein, im zweiten kamen 3 Stunden Französisch hinzu, im dritten Griechisch. In den oberen Klassen wählte ich zuerst Italienisch als Freifach, zuletzt leistete ich mir noch 1 Jahr Englisch, was ich leider nur für den „Hausgebrauch“ gelernt habe. Damals meinten mein Vater und seine Berater noch, eine klassische Ausbildung in einer Klosterschule sei sowohl für den Charakter wie auch für den Intellekt das Allerbeste, was man einem jungen Menschen bieten könne. Ich habe zwar auch in naturwissenschaftlichen Fächern enorm viel gelernt und auch entsprechend viel vergessen. Wie Gymnasialunterricht zu gestalten wäre und welche Stoffe man anbieten müsste, die für das weitere Leben notwendig oder wenigstens nützlich sein könnten, ist immer noch umstritten. Als meine Söhne nach der Primarschule ins Gymnasium übertreten konnten, riet ich ihnen davon ab, den gleichen Weg zu gehen wie ich. Wir wohnten aber in einem Quartier, wo es zum guten Ton gehörte, ins humanistische Gymnasium zu gehen. Da ihnen wichtige Kameraden dorthin gingen, wollten das meine zwei älteren Söhne auch, und ich leistete zu wenig Widerstand. Ich erlebte dann, dass der Jüngste im mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium eine mindestens gleichwertige Bildung geniessen konnte. So oder so kann man auch heute noch vieles, was zu einer guten Allgemeinbildung gehören soll, folgenlos vergessen. Die Erziehung zur Selbsterziehung dagegen halte ich heute noch für sehr wichtig. Eine Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen religiöser, sozialer, politischer Art sollte in allen Schulen viel mehr Gewicht bekommen. Besonders die Bildungseliten, die künftigen Leiter und Leiterinnen des Landes sollten nicht nur intellektuell geschult, sondern auch zur bewussten Charakterformung angeleitet werden.
Ich schildere die Klosterschulung so ausführlich, weil sie ein Beispiel dafür ist, wie ich und andere junge Menschen in eine, heute in vielem überholte, Kultur und Weltanschauung eingeführt wurden. Es gab zwar schon damals, anfangs des 20. Jahrhunderts, Reformschulen, die in ganz anderem Geist unterrichteten und erzogen, und es gibt noch heute Gymnasien meines Typs, bei denen immer noch das Lernen einer möglichst grossen Menge von Stoff im Vordergrund steht. Mit Noten und ständigen Prüfungen werden die Schüler ausgelesen, das heisst auch zum Lernen und Gehorchen gezwungen und damit auf Anpassung trainiert. Ich war in der Klosterschule sehr pflegeleicht, fügte mich in fast allem, ohne Zweifel oder Widerspruch, und zwar nicht zuletzt, weil ich von ebenso gläubigen Patres auf persönliche, Anteil nehmende, freundliche Art geführt worden bin. Damals ahnten die wenigsten Pädagogen, dass eine Erziehung zu Anpassung und Gehorsam auch verheerende Folgen haben kann, dass Erziehung zu kritischem Denken, Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen und Mut zum Widerstand unbedingt auch zu einem modernen Schulprogramm gehören müssen, wie das z.B. die Reformpädagogen seit Jahrzehnten vertreten.
Als ich 1944 die Rekrutenschule absolvieren musste, kam ich einige Wochen nach den Klassenkameraden ins letzte Schuljahr. 1945 musste ich die Maturitätsprüfung einige Wochen früher absolvieren, weil ich in die Unteroffiziersschule einrücken musste. Wenn das Vaterland rief, war alles möglich! Einige Klassenkameraden hatten eine noch bessere Abkürzung ihres Schulweges gefunden, als sie Engelberg nach der 6. Klasse verliessen und in ein Gymnasium,in dem man die Matur nach 7 Jahren bestehen konnte, übertraten. Ein Jahr früher oder später, danach krähte damals kein Hahn. Das jahrelange Gegacker um die Schulreformen späterer Jahre ist, verglichen damit, vielleicht doch etwas übertrieben.
Was möchte ich noch erzählen von den 8 Jahren in der Klosterschule, was könnte für einen heutigen Leser, eine Leserin interessant sein? Die Gymnasialzeit, als aus dem Kind ein Erwachsener wurde, war eine lebendige Phase meines Lebens gewesen. Aber wegen der Schule doch immer wieder auch eine sorgenvolle. Das Krampfen für genügende Noten und die Angst, nicht zu genügen, waren oft stärker als alle anderen Erlebnisse. Ebenso das mühselige Ringen um Selbstdisziplin, die es brauchte, um genügend Arbeitswillen aufzubringen, um den Regeln der Hausordnung, der katholischen Moral und den eigenen asketischen Idealen zu genügen. Leistungen mussten erbracht werden; Lebensfreude, Spass, spontanes Leben aus dem Augenblick heraus, wie in der Kindheit, gab es zwar auch, vor allem in der spärlichen Freizeit, gemeinsam mit den Kameraden, aber Entwicklung von Selbstdisziplin, Gehorsam und Pflichterfüllung standen im Zentrum.
Welche Fächer habe ich gern gehabt? Rechnen und dann später Mathematik sicher nicht, aber Geschichte und Geografie liebte ich von der ersten bis zur letzten Klasse, je nach Lehrer auch Deutsch. Für solche, die meine Fantasie und Schilderungsfreude schätzten, schrieb ich liebend gern. Für Orthografie-Pedanten und Stilkritiker riss ich mir kein Bein aus. In den letzten zwei Klassen schätzte ich vor allem Philosophie, Psychologie und Ethik, und natürlich Turnen, nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen des leidenschaftlichen Vortrags von Pater Raphael, der uns immer wieder zu Widerspruch und Diskussionen herausforderte. Pater Gall dagegen erzählte Geschichte mit eintöniger Stimme, hockte unbeweglich wie ein Bär an seinem Pult, und trotzdem faszinierte mich sein Vortrag. Ich fieberte mit, während Claude, der später Physikprofessor wurde,neben mir unter der Bank am Boden hockte und schlief oder las. Kunstgeschichte faszinierte mich sehr, obwohl die Bilder nackter Frauen im Buch, das zum Anschauen herumgegeben wurde, überklebt waren. Die naturwissenschaftlichen Fächer lagen mir nicht, ich verstand hier zu wenig schnell, oft mussten Kameraden mir Zusammenhänge erklären, die ich dann mühsam memorierte, um doch noch zu guten Noten zu kommen.
Für das weitere Studium und die Berufswahl kam nur etwas in Frage, das mit Menschen zu tun hatte. Berufsberater und Lehrer sagten mir, dass Psychologie zwar ein Studium sei, aber kein Beruf. Ich sei an allem Menschlichen interessiert, kontaktfreudig und könne gut mit Menschen umgehen. Das hatte ich als Leiter im turnerischen Vorunterricht (heute Jugend und Sport) schon im Gymnasium gezeigt. Nach einem Einführungskurs von einer Woche, je Winter und Sommer, war ich 2 Jahre intern, mit Erfolg als Vorunterrichtsleiter tätig. Ich solle am besten Lehrer werden, meinten alle. Diesen Vorschlag fand ich zwar nicht besonders attraktiv, wusste aber keine bessere Lösung.
Vorerst war ja für mich gesorgt, unmittelbar anschliessend an die Matura musste ich für 21 Wochen ins Militär, 4 Wochen Unteroffiziersschule, dann 17 Wochen Korporal abverdienen, zum Glück wieder in der Kaserne Luzern, keinen Kilometer vom Elternhaus entfernt, in das ich immer, wenn ich frei war, leicht flüchten konnte.
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