Hans Näf Leben und Wirken
Lebensgeschichte
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Die ersten 7 Jahre
in der "Heimat" in
Wolhusen
In der Klosterschule
Engelberg
1. bis 8. Klasse
Kriens Alpenstrasse
ab Ostern 1931
1948 - 52 Studium
an der Universität
Basel und die
grosse Liebe
1946/47 zwei
Semester in Paris
Militär
1945/46
Familienleben
1945/46 Studium
an der Universität
Zürich
Die Zeit nach 1959
Schulpsychologe in
Basel 1959 - 73
Meine eigene
Familie in Meggen
Meine Zeit als
Sekundarlehrer
Bergsteigen und
Skifahren
Erlebte
Schulgeschichte
Kriens, Alpenstrasse 42, ab Ostern 1931
Die neue Umgebung
Vom Bahnhof Luzern weg brachte uns das Tram zum Kupferhammer, wo wir ausstiegen, weil das eine Taxgrenze war und wir 5 Rappen sparen konnten, wenn wir nicht bis zur Alpenstrasse fuhren. Auf dieser ging es bis zum Ende, und ich wurde immer gespannter, wie das hellblaue, 4- stöckige Haus, von dem der Vater geschwärmt hatte, wohl aussehe. Leider sah man davon nicht viel, denn es war schon ziemlich dunkel geworden. In der neuen Wohnung aber gefiel es mir sofort. Als wir ankamen, empfing uns eine helle, warme Stube, in der die Mutter mit zwei Frauen am Nähen war. Alle hiessen mich im neuen Heim willkommen. Es herrschte eine geschäftige Stimmung, Stoffe lagen auf den Stühlen und auf dem Tisch eines dieser geheimnisvollen Schnittmuster. Ich sah, dass die Wände unten nicht in rechten Winkel auf dem Boden standen, sondern mit einem Halbrund in diesen übergingen. Das machte die Stube für mich noch interessanter und einladender. Ich war sofort zu Hause und verlor keine Gedanken an die Vergangenheit und auch nicht an die Zukunft. Offenbar war ich schon damals ein „leichtsinniger Tropf“, wie mich der Vater später hie und da bezeichnete.
Im Parterre unseres neuen Heims wohnte die Familie Gross. Herr Gross war Gaseinzüger und Mitglied der Liedertafel in Luzern. Er war nett und fröhlich, sang gern, auch auf dem Heimweg von den Chorproben. Mein Vater mochte es nicht leiden, wenn er nachts, nach der Gesangsprobe, zum Abschluss vor dem Haus noch ein Ständchen gab. Den Vater störte es beim Schlafen, und er machte sich Gedanken, was die Nachbarn wohl darüber dachten, dass es stören könnte und überhaupt, weil man in der Nacht nicht Lärm macht. Die Mutter fand, er singe schön und dürfe auch eine Freude haben, er habe doch einen strengen Beruf und es sei ja nur einmal in der Woche. Der Vater dagegen fand, es gehöre sich nicht, aber er sei eben ein Sozi, die würden auch sonst auf den Strassen Krawall machen. Die Sozis liebte er nicht, seit er 1918 als Soldat in Zürich mit seinem Bataillon zur Unterdrückung des Generalstreiks eingesetzt worden war. Wahrscheinlich steckte es meine Mutter irgendwann der Frau Gross, die auch sehr friedliebend war, dass mein Vater die nächtlichen Gesänge nicht schätzte, denn mit der Zeit wurden die Ständchen seltener. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass der Hausbesitzer, der Bruder von Herrn Gross, der immer wieder Geld benötigte, mit meinem Vater geredet hatte. Mein Vater half ihm jeweils aus der Klemme, bis das Haus nach etwa 25 Jahren meinen Eltern gehörte.
Grossens hatten eine Tochter, Margrit, die gleich alt war wie ich, mich aber erst zu interessieren anfing, als wir einige Jahre älter waren. Wir spielten dann gern im Keller, indem wir einen Ball hin und her warfen. Das Spiel war aufregend, denn Margrit hatte schon Brüste, und die sah man dabei so schön. Frau Rupp, die alte Mutter von Frau Gross, gehörte auch zur Familie. Auf ihrem Velo, das sie nicht mehr benutzte, lernte ich fahren. Eines Abends konnte ich den Hausbewohnern, die aus den Fenstern zuschauten, meine Künste zeigen. Zum Abschluss fuhr ich von der Strasse aufs Trottoir, erwischte die kleine Auffahrt aber nicht und flog Kopf voran an die Holzlatten des Gartenhages. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern je Streit hatten mit der Familie Gross, aber sie hielten etwas Distanz. Später merkte ich, dass der Vater als Postverwalter angesehener war als der Gaseinzüger.
Über uns lebte im dritten Stock die Familie Alder, mit Trudi und einem Buben, dessen Name ich vergessen habe. Auch zu diesen Mitbewohnern hatten meine Eltern ein freundliches, aber distanziertes Verhältnis. Ihre beiden Kinder waren jünger als Marta und ich. Wegen Trudi gab es eines Tages eine riesige Aufregung. Die Männer des Hauses waren dabei, die Jauchegrube zu leeren und die „Gülle“ im Garten zu verteilen. Dabei deckten sie das Loch nicht jedes Mal zu, wenn sie einen Kübel voll wegtrugen. Beim Spielen fiel die kleine Trudi in die Grube und wäre ertrunken, wenn es den Männern nicht gelungen wäre, sie herauszuholen. Für die Erwachsenen war es ein Riesenschreck, der noch tagelang zu reden gab und mir die Stelle unheimlich machte, sodass ich die Teppichklopfstange, die darüber lag, zum Turnen eine Weile nicht mehr benutzte.
Den Rasen, der das Haus umgab, konnten wir bis zur Anbauschlacht zum grössten Teil zum Spielen benutzen. Nach 1939 musste alles in einen Gemüsegarten verwandelt werden, da die Nahrungsimporte wegen des Krieges ausblieben. Auch wir Kinder mussten in diesem Garten mithelfen, was ich nicht gerne tat, denn die langweilige „Jäterei“ reduzierte die Spielzeit mit den Kameraden. Diese schrumpfte überhaupt Jahr für Jahr zusammen. Erst recht ab 1937, weil ich den grössten Teil des Jahres sowieso im Internat Engelberg war.
Im Haus nebenan wohnten Schweglers. Ihre Tochter Liselotte war gleich alt wie meine Schwester. Edi, ihr Vater, ein Klassenkamerad und Freund meines Vaters, war Lehrer an der Sekundarschule in Kriens. Diese Familie war für uns besonders wichtig. Mit ihr hatten meine Eltern ein vertrauteres Verhältnis als mit den übrigen Familien der Umgebung. Nur mit Schweglers verkehrten sie per Du, mit allen andern blieb es lebenslang beim Sie.
Neue Schule, neue Kameraden
Am ersten Schultag der 2. Klasse nahm mich Herr Schwegler zum Schulhaus mit und lieferte mich meinem neuen Lehrer ab. Dieser hiess Wicki und war nicht nur Lehrer, sondern auch Organist. Bei ihm mussten wir am Morgen vor Schulbeginn beten. Da wir das Gebet schon von der ersten Klasse her kannten und niemand es mich lehrte, plapperte ich ein Jahr lang einfach nach, was ich hörte, aber nie richtig verstand. Wenn Herr Wicki morgens orgeln musste, begann die Schule erst um 9 Uhr, was wir sehr schätzten. An den andern Tagen musste jeweils eines von uns den „Wächter am Pilatus“ holen. Darauf bekam die Klasse schriftliche Aufgaben, und Vater Wicki begann diese Zeitung zu studieren. Er sass am Pult und verschwand ganz hinter seinem Blatt. Ohne aufzuschauen schlug er mit einem Stecken auf den Tisch und rief „Ruhe“, wenn es zu laut wurde im Schulzimmer. Anfänglich erschrak ich, gewöhnte mich aber bald daran, denn es war immer das Gleiche und sonst hatten wir keine Angst vor dem Lehrer. Mein Vater behauptete, wir würden nichts lernen bei diesem faulen Kerl, aber er sagte es nur in der Stube, wenn die Fenster zu waren und es nur die Familie hörte.
Die Klassenkameraden nahmen mich gut auf, keiner plagte mich, weil ich neu war. Ich gehörte bald zu ihnen, fühlte mich wohl und begriff nicht recht, was der Vater gegen den Lehrer hatte. Die Mädchen waren und blieben unter sich, mit denen hatten wir kaum Kontakt. Auch im Quartier fand ich leicht Kameraden, mit denen ich „schuten“ (Fussball spielen) und im Wald Indianerlis spielen konnte. “Chübeli schuten“ auf dem Platz vor dem Konsum war ganz wichtig und beliebt. Meine Tage waren bald ausgefüllter als in Wolhusen, obwohl ich die wenigen Schulaufgaben und häuslichen Pflichten immer schnell hinter mich brachte.
Ich wurde in einer Bande von Buben ein aktives Mitglied, und meine Mutter liess mir ziemlich viele Freiheiten. Schwierigkeiten machte sie mir nur, weil sie darauf beharrte, dass ich bis weit in den Sommer hinein einen Pullover mit langen Ärmeln und Strümpfe anziehen musste und nicht mit kurzen Ärmeln und Socken, wie die andern Buben, herumlaufen konnte. Die Auseinandersetzung mit der Mutter belastete mich aber weniger als die Kritik des Vaters an einigen meiner neuen Kameraden, die er als „schlechte Gesellschaft“ bezeichnete. Als Zielwerfen mit Steinen Mode wurde und er vernahm, dass wir unsere Kunst an Strassenlampen, Telefonstangenglöcklein und einer Vase auf einem Klavier bei Romanows im ersten Stock, dort allerdings erfolglos, ausprobierten, wurde er böse. Als dann der Lehrer Burri, zu dem ich von der 3. bis zur 6. Klasse ging, ein Zwischenzeugnis schickte, mit der Bemerkung “Ihr Sohn raucht“ und für das Betragen eine 3 setzte, war er vollends überzeugt, dass diese schlechte Gesellschaft mir nicht gut täte. Dass wir Maikäfer von hinten auf Zahnstocher aufspiessten, sodass sie nur noch geradeaus fliegen konnten, Vogelnester plünderten, um die Eier auszutrinken, den sprachbehinderten Edi vom Armenhaus verhöhnten, von den unanständigen Sachen redeten, die Männer und Frauen miteinander trieben, vernahm er nur teilweise. Wenn, dann gab es Strafen, wie einen ganzen freien Tag mit Gartenarbeit verbringen, ohne Nachtessen ins Bett gehen und Ähnlichem. Als Ausgleich konnte ich mich jeweils im Kameradenkreis damit brüsten, denn die hatten keine Eltern, die sich derart intensiv mit ihnen auseinandersetzten.
Von dieser Zeit in Kriens, wo ich bis zur 6. Klasse in die Schule ging, habe ich eigentlich nur gute Erinnerungen. Die Schule fiel mir leicht, ich hatte relativ gute Noten, Kameraden, die mich mochten und liebevolle Eltern. Nur einmal bekam ich Schläge, und zwar vom Vikar, weil ich im Religionsunterricht den „Glauben“ nicht auswendig hersagen konnte. Ich musste mich bäuchlings auf einen Stuhl legen, und der geistliche Herr verprügelte mich mit einem Stock. Ich brüllte so laut ich konnte und war deswegen nachher in der Pause der Mittelpunkt einer interessierten Bubenschar. Das Ereignis erhöhte mein Prestige erheblich. Ich gewann sogar einen Kameraden, der eine Klasse über mir war, als Freund.
Bald danach suchte der Lehrer, der das Schultheater leitete, einen Buben, der gut weinen konnte. Ich gewann das Probeweinen und durfte bei der Schulaufführung den Hänsel spielen. Da ich mich der Hexe gegenüber zuerst frech benahm und dann jämmerlich heulte, gewann ich in Bubenkreisen weiter an Ansehen.
In der Familie musste ich mir dieses durch jäten, Schuhe putzen, anständig essen, gute Noten heimbringen, ohne Widerrede gehorchen, Erwachsene grüssen, Schwesterchen nicht plagen und andere Tugenden verdienen. Das fiel mir meistens auch nicht schwer. Ich hatte verständnisvolle Eltern, gehörte im Quartier zu einer glücklichen Bubenschar, die dauernd unterwegs war und ein ziemlich ungebundenes, von den Erwachsenen mit Wohlwollen verfolgtes Leben führen konnte. Mein Vater wünschte sich aber einen etwas ehrgeizigeren Sohn, den die Schulnoten und die berufliche Zukunft allmählich etwas mehr interessieren sollten als Winnetou und Waldhütten bauen.
Nach der Primarschule käme ich fürs Gymnasium in Frage, hatte ihm Herr Lehrer Burri bestätigt. Also nach Luzern an die Kantonsschule? Das hätte bedeutet, dass ich praktisch den gleichen Weg gehabt hätte wie der Vater. Seit Jahren hatte er beobachten können, wie sich die Kantonsschüler im Tram flegelhaft und mit dem Velo im Sommer unvorsichtig benahmen. Seinen leichtsinnigen Sohn wollte er dem nicht aussetzen, der sollte in einem guten Internat einen straffen Rahmen erhalten und konzentriert lernen können. Deshalb fragte er mich um Ostern 1937 herum, ob ich einverstanden sei, ab Herbst in Engelberg ins Gymnasium zu gehen. Die Mutter sei etwas enttäuscht gewesen, dass ich von der Idee begeistert war und sofort fragte: „Wann kann ich gehen?“ Ich hatte natürlich keine Ahnung, auf was ich mich da einliess. Den Heimathafen leichten Herzens verlassen und ohne viel Wenn und Aber zu neuen Ufern aufbrechen, das sollte mir noch etliche Male passieren.
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