Hans Näf  Leben und Wirken

 

 

 

 

   Zum Schreibprozess

 

   Die ersten 7 Jahre

   in der "Heimat" in

   Wolhusen

 

   In der Klosterschule

   Engelberg

   1. bis 8. Klasse

 

   Kriens Alpenstrasse

   ab Ostern 1931

 

   1948 - 52 Studium

   an der Universität

   Basel und die

   grosse Liebe

 

   1946/47 zwei

   Semester in Paris

 

   Militär

 

   1945/46

   Familienleben

 

   1945/46 Studium

   an der Universität

   Zürich

 

   Die Zeit nach 1959

 

   Schulpsychologe in

   Basel 1959 - 73

 

  Meine eigene

  Familie in Meggen

 

   Meine Zeit als

   Sekundarlehrer

 

   Bergsteigen und

   Skifahren

 

   Erlebte

   Schulgeschichte

Familienleben

 

Am 3.10.1945 wurde ich aus dem Militär entlassen und begann 3 Tage später im ersten Semester an der Universität zu studieren. Schon während der Militärzeit bekam ich dadurch, dass ich in der Kaserne Luzern, etwa 1 Kilometer vom Elternhaus entfernt, stationiert war, intensiveren Kontakt mit meiner Familie, als ich ihn vorher 8 Jahre als Internatsschüler gehabt hatte. Einen grossen Teil meiner Ferienzeit hatte ich während der Gymnasialzeit nach Plan Wahlen im Landdienst verbringen müssen. (Während des Krieges musste jeder Schüler 4 Wochen seiner Ferien auf einem Bauernhof verbringen, denn nur unter grösstem Einsatz konnte die Lebensmittelversorgung gesichert werden.)  Dazu kamen noch Welschland- Aufenthalte, um Französisch zu lernen. Während des Studiums aber logierte ich nur wochentags in Zürich, die Wochenenden verbrachte ich regelmässig bei meiner Familie in Kriens.

 

Ich genoss den Kontakt mit den Eltern und mit meiner Schwester Marta, die inzwischen eine hübsche, lebhafte junge Frau geworden war, an der ich mehr Interesse fand, als früher am Martali. Sie war in Gambach, einem Freiburger Internat, geschult worden und hatte sich auch ein Maturitätszeugnis erworben. Der Vater hätte es gern gesehen, wenn sie an einer Uni studiert hätte, aber Marta wollte dies absolut nicht. Wenn sie gleichzeitig mit mir zu Hause war, hatten wir viele interessante Gespräche, und ich bekam so engeren Kontakt mit weiblichen Denk- und Fühlweisen. Auch lernte ich durch Marta einige ihrer Freundinnen kennen. Claire gefiel mir besonders gut, aber ich war zu schüchtern, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie sich für mich interessieren könnte. Erst als ich in Paris einer initiativeren Ungarin begegnete, wurde ich allmählich etwas mutiger.

 

Meine Mutter führte wie gewohnt den Haushalt, kochte, putzte, machte unsere Wäsche, sorgte für die Harmonie in der Familie, mahnte mich anständig zu essen, den WC-Ring nicht zu verpinkeln, die Fingernägel zu säubern und Ähnlichem. Konsequent und aufmerksam ergänzte sie die Erziehung der Klosterschule, die auf solche Äusserlichkeiten weniger Wert gelegt hatte. Marta und ich unterstützten sie bei ihrer Arbeit und den erzieherischen Bemühungen, ich mit Schuhe putzen und Marta mit Abtrocknen. Wir genossen das Hotel Mama ausgiebig ohne schlechtes Gewissen, es war schliesslich Mutters Beruf, dieses zu führen. Sie erntete dafür sowohl von ihrem Mann wie auch von uns Kindern immer wieder Lob. Der Vater wurde dabei oft zum Gespött von uns Kindern, weil er stereotyp nach jeden Ferien rühmte: „Zu Hause ist es am schönsten und das Essen doch am besten“.

 

Die früher üblichen Raufereien und Schmusereien mit der Mutter und der Schwester hatte ich schon seit einiger Zeit aufgeben müssen, da ich es unanständig fand, wie mein Körper dabei zu reagieren angefangen hatte. An ihre Stelle waren Anteilnahme am persönlichen Befinden, Erleben und Denken und lange Diskussionen über Gott und die Welt getreten. Ich kann mich nicht erinnern, je Streit gehabt zu haben mit der Mutter oder der Schwester. Einmal kam ich mit einem Bart heim, der meiner Mutter gar nicht gefiel. Sie wollte, dass ich ihn abrasiere, aber ich weigerte mich, der Vater habe auch einen Schnauz. „Dann mach ich auch, was ich will und koche für Dich nicht mehr“, war ihre Reaktion, und damit war das Problem erledigt. „Bart wachsen lassen“ und „nicht mehr kochen“ wurden geflügelte Drohungen bei Meinungsverschiedenheiten zwischen der Mutter und mir. Aber diese waren so selten, dass meine Schwester schon längst der Meinung war, bei der Mutter dürfe ich alles und sie helfe immer mir und ihr viel weniger.

Mit dem Vater gab es zwar hie und da Diskussionen und Spannungen, aber auch er war ein toleranter und liebevoller Mensch. Zu einem eigentlichen Bruch in unserer Beziehung kam es trotzdem, aber erst im fünften Semester meines Studiums. Meine Bergsteigerei war ihm zwar schon früher nicht nur ein Dorn im Auge, sondern eine tiefe Sorge gewesen. Er fühlte sich aber erst verletzt, als ich gegen seinen ausdrücklichen Willen ein Motorrad kaufte und zur Finanzierung das Kassenbüchlein verwendete, das nach meiner Geburt für mich angelegt worden war. Diese eigenmächtige Respektlosigkeit konnte er mir lange nicht verzeihen, was ich heute gut verstehen kann. Als mein Sohn Thomas viele Jahre später sich ein Motorrad kaufen wollte, kommentierte er meine Bedenken mit der Bemerkung, dass ich bei diesem Thema nichts zu sagen hätte.

 

Als mein Vater vom Postverwalter zum Inspektor bei der Kreispostdirektion Luzern avanciert war, musste er die Geschäftsführung der Poststellen kontrollieren. Manchmal kam er sehr bedrückt von einer Inspektion heim. Wenn er dann beim Nachtessen erzählte, er habe heute einen Betrug feststellen und eine Anzeige machen müssen, wurden seine Augen feucht. Die Frau und die Kinder des Täters taten ihm jeweils sehr leid. Die Betrüger bezeichnete er oft als „dommi Lappi“. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er sie als Verbrecher verurteilte, eher waren sie für ihn kurzsichtige Dummköpfe, mit denen man im Grunde genommen Mitleid haben müsse. Die Fragen nach dem Warum dieser kurzsichtigen Betrügereien beschäftigten ihn immer wieder, und oft wünschte er sich, er wäre Verwalter geblieben, statt Inspektor zu werden. Als ihm der nächste Karrieresprung zum Direktor misslang, war er trotz der Enttäuschung froh, weil ihm dadurch eine Menge schwieriger Personalentscheide erspart blieben. Sachentscheide zu treffen bereitete ihm weniger Mühe. Menschen etwas Unangenehmes zuzumuten, fiel ihm schwerer. Wegen seiner freundlichen und liebevollen Art genoss er denn auch in der Gemeinde grosses Ansehen. Die Mutter erzählte, nachdem er mit 94 Jahren friedlich zu Hause gestorben war, er sei zwar ein Patriarch gewesen, und es sei ihr oft nicht leicht gefallen, sich ihm unterzuordnen, aber seine liebevolle Art hätte es ihr erleichtert.

 

Die Mutter hatte Meiers Modeblatt abonniert und nähte nach dessen Schnittmustern selber Kleider. Auch der Vater las Meiers Modeblatt, ihn interessierte die Kolumne „Was bedrängte Herzen wissen wollen“. Darin wurden Beziehungsprobleme von Paaren oder Familien behandelt. Diese Lektüre wurde regelmässig beim Essen besprochen. Dabei wollte der Vater immer die Stellungnahme seiner Frau hören. Diese war nämlich im Lauf der Jahre so etwas wie eine Spezialistin für Fragen der menschlichen Beziehungen und der Pflanzenpflege geworden. Nachbarinnen brachten Töpfe mit Blumen, denen es schlecht ging, Josy gab Ratschläge oder behielt die „Patienten“ zur Pflege bei sich. Oft kamen Frauen, auch um persönliche Probleme zu besprechen. Dann mussten wir Kinder die Stube räumen und ins hintere Zimmer ziehen, wo man nicht hören konnte, was in der Stube gesprochen wurde. Davon erzählte die Mutter nur dem Vater, meist abends im Bett. Erst als ich einige Semester hinter mir hatte und Psychologie studierte, fing sie an, mich zu Rate zu ziehen. Wenn sie mich als Helfer für Beziehungsfragen oder beim Lösen von Kreuzworträtseln benötigte, konnte sie etwa sagen:“ Für etwas lässt man dich schliesslich studieren“.

 

Wir waren eine friedliche, kontaktfreudige und lebendige Familie. Das genoss ich zwar, realisierte es damals aber nicht und bemerkte erst später, wie gut ich es hatte. Natürlich gab es auch Meinungsverschiedenheiten. Als ich noch im Internat war, hatte ich jahrelang zwei Probleme mit dem Vater: meine Schulkarriere und das Militär. Er machte sich am Anfang des Gymnasiums Sorgen, dass ich nicht bleiben könnte, weil meine Schulleistungen zu schwach seien, und weil ich mir deswegen weniger Sorgen machte, als er notwendig fand. Sein Misstrauen in meine Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit verletzten mich, sodass ich das Thema vermied und das Problem bagatellisierte, was den Vater seinerseits zum Insistieren verleitete. Er musste mir „leichtsinnigem Tropf“ den Ernst der Situation doch richtig klar machen! Deswegen trug er meine Schulnoten regelmässig, über Jahre für jedes Fach, in ein Diagramm ein. Immer wenn ein neues Zeugnis eintraf, d.h. 3 Mal jährlich, gab’s peinliche Sitzungen, bei denen seine Aufmerksamkeit den Punktverlusten und meine den Punktgewinnen galt. Vaters „Aufmunterung“ lautete immer: „Du musst dich nicht mit den Schwächeren vergleichen, sondern mit den Besseren“. Das hörte ich besonders gern! Natürlich wollte er mich damit anspornen, bemerkte aber nicht, dass er sich mit dieser konkreten Erziehungsmassnahme selber widersprach. In andern Zusammenhängen erklärte er nämlich oft: „Es ist bei den Menschen wie in der Mechanik: Druck erzeugt Gegendruck“.

 

Ein Dauerbrenner von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vater und mir war schon während der Internatszeit das Kriegsgeschehen. In unserer Freizeit waren wir Halbstarke damals ständig am Raufen. Mit brennendem Interesse verfolgten wir das Kriegsgeschehen und bewunderten die deutschen Armeen, die überall siegten. Wie viele meiner Kameraden liess ich mir diese Heldenverehrung weder von Lehrern noch vom Vater ausreden. Je älter ich wurde und je weniger mich die Bubenkämpfe interessierten, umso gieriger las ich Frontberichte, Kriegsgeschichte und alles, was mit Militär zu tun hatte. Als ich mir l942 Rommels „Infanterie greift an“ als Weihnachtsgeschenk wünschte, war mein Vater entsetzt. Da ich keinen andern Wunsch hatte, kaufte er mir das Buch trotz seines Widerwillens. Dass er sich deswegen in der Buchhandlung habe schämen müssen, tat mir zwar Leid, hielt mich aber nicht davon ab, es zu verschlingen. Seine Bemühungen, mir zu erklären, was Krieg bedeute, wie entsetzlich Krieg sei, verstand ich damals nicht. Im Gegenteil, mein Wunsch Berufsoffizier zu werden, verfestigte sich von Jahr zu Jahr. Als ich etwa 18 Jahre alt war, vermittelte mir der Vater ein Gespräch mit einem Berufsoffizier, damit ich mir ein realistisches Bild von diesem Beruf machen könne. Vorher hatte er oft von den eigenen schlechten Erlebnissen als Soldat erzählt und mir alles Militärische in schwarzen Farben gemalt. Dadurch war ich allerdings so wenig zu bekehren wie durch das Gespräch mit dem Herrn Oberst.

 

Im Oktober 1945, nach 30 Wochen Militärdienst, konnte ich ein verkürztes erstes Semester an der Universität Zürich beginnen. Für die Kosten kamen, wie schon fürs Gymnasium, die Eltern auf. Die Mutter hatte die Auslagen für den Haushalt jeden Monat mit dem Vater abzurechnen. Sonst musste sie sich um Finanzielles nicht kümmern. Sie war froh darüber und empfand das nicht als Entmündigung. Im Gegenteil, es widerstrebte ihr, als ihr Mann, als er etwa 90 Jahre alt war, anfing, ihr „das Finanzielle“ zu erklären und allmählich zu übergeben, damit sie es „könne“, wenn er nicht mehr dazu fähig oder tot sei. Ich dagegen war nicht verpflichtet, Rechnung zu führen, der Vater gab mir portionenweise so viel Geld, wie ich brauchte und von ihm erbat. Dieses Vertrauen setzte mich unter extremen Spardruck, und ich begann, meine Ausgaben auch aufzuschreiben, um sie rechtfertigen zu können. Mit dem Studiengeld war der Vater immer grosszügig und vertrauensvoll, obwohl er als Postbeamter sicher keinen grossen Lohn hatte. Wie es jährlich noch für drei Wochen Familienferien in einem Hotel in den Bergen reichte, ist mir schleierhaft. Ich erlebte zwar, dass von den Eltern das ganze Jahr sehr gespart wurde. Telefoniert wurde zum Beispiel nur in ganz dringenden Fällen, Geld durfte nicht verplaudert werden. Mit dem Tram nach Luzern zu fahren, statt zu Fuss zu gehen, war einfach nicht üblich. Wozu hat der Mensch denn Beine? Auswärts essen kam nur in den Ferien bei Halbpension in Frage. Auch ging der Vater nie mit Kollegen nach Feierabend ein Glas trinken. Einen Luxus gönnte er sich zwar: Zu jedem Mittagessen trank er ein Glas „Roten“, den er fassweise, via Einkaufsgenossenschaft der Bähnler und Pöstler, in Frankreich bestellte. Es war mein Amt das 50 Liter-Fass mit einem Leiterwägeli, das ich bei den Nachbarn ausleihen musste, an der Bahnstation in Kriens, abzuholen. Das Abfüllen in Flaschen besorgten der Vater und sein Freund Edi am freien Samstag-Nachmittag im Keller. Das war für beide jeweilen ein Fest. Sie lachten ungewohnt viel, waren ausgesprochen fröhlich und sangen hie und da sogar. Dann waren sie mir irgendwie unheimlich. Das verstand ich erst später, als ich nach 16 auch Wein trinken durfte.

 

Singen war sonst in unserer Familie eine weibliche Angelegenheit. Die Mutter und Marta liebten es, beim Abwaschen zu singen. Beide waren musikalisch recht begabt und konnten auch ein wenig Klavier spielen. Die Mutter leitete Marta und mich an, wenn wir für unsere Musikstunden übten. Wenn es der Vater mit der Geige tat, rief sie immer wieder aus der Küche: "Falsch, höher!" oder "Tiefer!“ Der Klavierlehrer weigerte sich, als er mit mir bis zum Bassschlüssel gekommen war, sich weiter mit mir abzumühen und schlug vor, statt dessen Marta intensiver zu schulen, sie sei eindeutig begabter. Zuvor hatte mich schon der Primarlehrer musikalisch abgeschrieben, als die Klasse vor Lachen brüllte, als ich „Hänschen klein“ vorsingen musste. Im Kollegium glaubten die Musiklehrer, als sie in den mitgebrachten Zeugnissen unter Musik ein „disp.“ eingetragen fanden, ebenfalls, dass ich völlig unmusikalisch sei und dispensierten mich weiterhin vom Musikunterricht. Im ersten Semester in Zürich erzählte ich einem Musikstudenten von meiner Schwäche. Dieser wollte das Phänomen kennen lernen, schleppte mich zu seinem Klavier, schlug Tasten an, und ich musste und konnte die Töne nachsingen, ebenso einzelne Melodien. Er freute sich enorm und triumphierte, wie wenn er mich durch seine Prüfung musikalisch gemacht hätte. Ich war ein wenig erlöst und getraute mich von da weg, wenigstens im Militär mitzusingen. Allmählich merkte ich selbst, dass ich singen konnte, wenn ich mich neben einen guten Sänger stellte und ihm nachsang.

 

Seitdem ich Ilse, meine Partnerin, und ihre Freude am Singen erlebe, bedaure ich es sehr, dass weder ich selbst, noch sonst jemand, auf den Gedanken gekommen war, meine musikalische Ausbildung später nachzuholen. Diese Möglichkeit kam mir nicht in den Sinn, ich war zu sehr mit Studium und Sport beschäftigt. Ausserdem glaubte ich, wie damals noch sehr viele Menschen, dass man musikalisch begabt sei oder eben nicht. Dass auch schwächere Talente entwickelt werden könnten und Musikalität nicht nur vom Erbgut abhängig sei, war damals noch wenig bekannt. Man glaubte auch noch allgemein, dass z.B. die Neigung zu Kriminalität vererbt sei und sah die Rolle der Prägung durch die Umwelt nicht oder unterschätzte sie.

 

 

 

 

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