Hans Näf Leben und Wirken
Lebensgeschichte
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Zum Schreibprozess
Die ersten 7 Jahre
in der "Heimat" in
Wolhusen
In der Klosterschule
Engelberg
1. bis 8. Klasse
Kriens Alpenstrasse
ab Ostern 1931
1948 - 52 Studium
an der Universität
Basel und die
grosse Liebe
1946/47 zwei
Semester in Paris
Militär
1945/46
Familienleben
1945/46 Studium
an der Universität
Zürich
Die Zeit nach 1959
Schulpsychologe in
Basel 1959 - 73
Meine eigene
Familie in Meggen
Meine Zeit als
Sekundarlehrer
Bergsteigen und
Skifahren
Erlebte
Schulgeschichte
Meine Zeit als Sekundarlehrer 1953 - 59
Januar bis März 1953, Sekundarlehrer in Reiden
In der ersten Dezemberwoche 1952 haben Mimi und ich das Studium abgeschlossen. Ich in Basel mit dem Doktorat Phil.I, Mimi in Zürich mit dem Ausländerexamen für Medizin. Dieses war inhaltlich genau gleichwertig wie das medizinische Staatsexamen ihrer Schweizer Kommilitonen, welche damit berechtigt wurden, ärztliche Praxen zu eröffnen. Für Mimi dagegen, als Französin, galt das gleiche Examen nicht als Bewilligung für eine ärztliche Tätigkeit in der Schweiz. Später, als Mimi durch unsere Heirat Schweizerin geworden war, haben wir überlegt, ob sie nicht doch eine Praxis eröffnen möchte, aber dazu sie hätte die Matur nachholen und dasselbe Examen noch einmal machen müssen.
Mimi und ich, nun frei und fertig ausgebildet, waren uns seit 1950 immer näher gekommen, ein Liebespaar geworden und entschlossen, so schnell wie möglich zu heiraten. Wir verstanden uns gut, hatten viele ähnliche Interessen, wollten das ganze Leben in Liebe miteinander verbringen und damit schleunigst anfangen. Auch meine Eltern waren einverstanden mit dieser Ehe, obwohl mein Vater Bedenken hatte, weil Mimi eine Ausländerin war. „Da weis man ja nie, was man sich auflädt an Verwandtschaft“.
Ich meldete mich nach dem Doktorat, im Dezember 1952, beim Erziehungsdepartement des Kantons Luzern als Sekundarlehrer an und bekam schon während der Weihnachtsferien eine Anfrage, ob ich nicht schon am 5. Januar eine Stelle als Sekundarlehrer in Reiden antreten könne. Die Stellvertreterin, die den kranken Stelleninhaber vertreten habe, hätte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie sei von den Buben vor Weihnachten im Schulzimmer in den Schrank eingesperrt worden. Die Buben seien heimgegangen und erst der Hauswart habe sie befreit.
Ich kannte die Schwierigkeiten, eine Schar Buben im Flegelalter zu bändigen, aus der Zeit, als ich in Basel als Lehrer-Stellverteter gearbeitete hatte. Meine Sekundarlehrerausbildung und das Psychologiestudium hatten mir damals beim Unterrichten sehr wenig geholfen. Ich hatte weder ein klares pädagogisches Konzept, noch praktische methodische Fertigkeiten im Leiten von Schulklassen. Im Militär hatte ich bemerkt, dass meine Rekruten und Soldaten mir nicht nur gehorchten, weil ich als Vorgesetzter Befehlsgewalt hatte, sondern auch weil ich respektvoll und fürsorglich mit ihnen umging und sie mich deswegen gut mochten. In der praktischen Ausbildung zum Lehrer hatte ich nur die Anwendung von Druck und Strafe kennen gelernt. Damit Ruhe und Ordnung herzustellen, lehnte ich ab und glaubte, die Klasse würde meine Freundlichkeit und Zuwendung schätzen und im Unterricht auch ohne Repression bereitwillig mitmachen. Da trotz meines freundlichen Verhaltens viele Schüler oft nicht aufpassten, den Unterricht störten, mir gegenüber frech wurden, war ich enttäuscht und ratlos. Ich wollte doch meine Schüler nicht mit Druck zu Kadavergehorsam erziehen, wie es offenbar vor dem Krieg in den deutschen Schulen praktiziert worden war. Die Aussagen der Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal, die sich zur Rechtfertigung ihrer Untaten stereotyp auf ihre Pflicht zu gehorchen berufen hatten, sollten uns eine Warnung sein! Wie hätten wir Schweizer uns als junge Soldaten verhalten? Wir waren auch zu Gehorsam gegenüber den Eltern, Lehrern, Behörden und militärischen Vorgesetzten erzogen worden. Nach der Unteroffiziers-Ausbildung, als uns diese Zusammenhänge richtig bewusst geworden waren, versuchten wir es mit einem freundlicheren Befehlston. Damit kamen wir bei den Rekruten gut an, bei den Vorgesetzten weniger. Als ich dann noch in den Untersuchungen des Frankfurter Soziologischen Institutes las, dass die autoritäre Erziehung im Elternhaus und in den Schulen die Hauptursachen des unheilbringenden Kadavergehorsams gewesen seien, wurde mir klar, dass ich nie nach diesem Modell erziehen dürfe. Aber wie denn?
Als ich anfangs Januar begann, in Reiden als Stellvertreter für drei Monate an der Sekundarschule zu unterrichten, empfahl mir die Schulpflege eindringlich, strenge Disziplin zu verlangen. Die Klasse hätte schon beim alten Lehrer zu wenig Disziplin gelernt und die Stellvertreterin sei deswegen gescheitert. Ich hatte mir vorgenommen, von Anfang an bei der kleinsten Störung sofort einzugreifen und Ruhestörer erbarmungslos zum Nachsitzen zu verdonnern. Ein erfahrener Lehrer hatte mich vorbereitet und mir erklärt, dass meine Liebe zu den Schülern schon gut sei, „aber du musst der Klasse von Anfang an zeigen, wer der Stärkste ist und wer die Regeln durchgibt. Wenn sie das begriffen haben, kannst du mit deiner humanistischen Psychologie immer noch kommen.“ Daher verlangte ich vom ersten Tag weg Disziplin und machte klar, dass ich der Chef sei, und sie mir zu gehorchen hätten! Es kam so weit, dass schon in den ersten Tagen 2/3 der Schüler nachsitzen mussten. Mit diesen konnte ich dann in Ruhe über meine Vorstellungen von Unterrichten und ihrer Rolle dabei sprechen. Wenn ich fragte, ob sie sich bewusst seien, warum sie hier gestraft würden, konnten sie dazu meistens wenig sagen. Ich versuchte ihnen klar zu machen, warum sie hier sitzen, ihre Freizeit opfern und erst noch Vorsätze für ihr künftiges Verhalten aufschreiben müssten. Dabei fühlte mich zwar nicht recht wohl und ich musste mich überwinden, ihnen derart auf der Seele herum zu knien. Im Prinzip verabscheute ich diesen moralischen Zwang, Genau dies wollte ich nicht, denn ich wusste, dass diese Methoden mitschuldig waren, dass Menschen gegen ihre Überzeugungen Verbrechen begehen konnten. Wie meine Eltern und Lehrer kannte ich damals aber auch keine besseren Möglichkeit, die Jungen unter Kontrolle zu bekommen.
Irgendwie kam mir die Idee, nicht nur mit den einzelnen Schülern beim Nachsitzen über mein Anliegen und ihre Verhaltensweisen zu reden, sondern mit der ganzen Klasse. Statt am Samstag um 11 Uhr eine Geschichte vorzulesen, was damals empfohlen wurde, um die Klassen für gutes Verhalten und Lernen zu belohnen, diskutierten wir über das Thema: „Was kann der Lehrer tun, damit wir ruhig sind, lernen und nicht den Unterricht stören und was können wir Schüler tun, dass der Lehrer ungestört unterrichten kann?“ Ich war erstaunt und bald hocherfreut, dass die Schüler in kurzer Zeit konstruktiv mitdiskutierten und sich bemühten, mich zu unterstützen. Die 3 Monate an der Knaben Sekundarschule Reiden ermutigten mich, beim Lehrerberuf zu bleiben. Denn nach den Basler Erfahrungen hatte ich mir mit Reiden eine letzte Chance gegeben. Nach wenigen Wochen begannen mich die Leute auf der Strasse anzusprechen: „Ah, sie sind der neue Lehrer, Gott sei Dank, jetzt weht ein anderer Wind!“ Damals realisierte ich allerdings noch nicht so klar, wie ich es jetzt beschreiben kann, dass ich mit dem Klassengespräch einen pädagogischen Edelstein gefunden hatte. Statt der üblichen Standpauke versuchte ich meine Probleme durch Gespräche, bei denen beide Seiten ihre Standpunkte einbringen konnten, zu lösen. Heute ist mir klar, dass das der Anfang meines lebenslangen Engagements war, Schwierigkeiten durch Gespräche zu verstehen und wenn möglich zu entschärfen oder gar zu lösen.
Heiraten mit dem ersten Monatslohn
Am 6. Februar 195fuhren Mimi und ich, begleitet von einigen Freunden, nach Genf um zu heiraten. In Genf wohnten nämlich Mimis Mutter, ihre Schwester Rosi, die bei der internationalen Flüchtlingsorganisation arbeitete, und Marthe, die für eine kirchliche Organisation tätig war. Meine Eltern und Verwandten blieben der Hochzeit fern. Als Katholiken konnten und wollten sie nicht dabei sein, wenn ich reformiert heiratete. Es betrübte sie sehr, dass ich dem Katholizismus dadurch den Rücken kehrte, aber sie hätten sich selber verraten und wären ihrem Lebensraum, in dem sie auch religiös sehr integriert waren, untreu geworden. Mimi und ich hatten ursprünglich, den Eltern zuliebe, katholisch heiraten wollen, obwohl ich damals schon sehr viele Zweifel an den katholischen Lehren hatte. Der Pfarrer, bei dem wir uns zur Heirat anmelden wollten, belehrte uns, als konfessionell gemischtes Paar müssten wir eine Verpflichtung unterschreiben, dass wir die Kinder katholisch erziehen würden. Mimi sagte ihm, sie könne dieses Papier wohl unterschreiben, könne die Kinder aber nicht katholisch erziehen, da sie lutheranisch aufgewachsen sei, ich werde das tun müssen. Ich selber aber wollte nicht etwas versprechen, das ich vielleicht nicht halten konnte. Der Gedanke eines „Kuhandels“ widerstrebte mir und ich beschloss, schweren Herzens, reformiert zu heiraten. Die nächsten zwei Monate arbeitete Mimi in Zürich als Assistentin eines Arztes und ich in Reiden. Zufrieden mit unseren beruflichen Anfängen, verbrachten wir glückliche Wochenenden in meiner Basler Mansarde im Haus der chemischen Reinigung Röthlisberger.
Als Hochzeitsreise machten wir in den Osterferien in Begleitung von Franco eine Skitour von der Göscheneralp nach Airolo. Anschliessend fuhren Mimi und ich auf dem Motorrad nach Elba. Dort genossen wir jeden Tag an einem anderen Strand Wasser, Sonne und Liebe. Eigentlich hatten wir geplant, die nächsten zwei Jahre kinderlos zu bleiben, aber bald nach Elba war Mimi schwanger. Als wir wieder in der Schweiz waren, räumten wir unser Zimmer in Basel und richteten uns im Oberland in Meggen in einer 2-Zimmerwohnung ein. Mimi gab ihre Stelle beim Arzt in Zürich auf, wurde Hausfrau und Praxis-Assistentin eines überforderten Sekundarlehrers.
Sekundarlehrer in Meggen 1953 – 1959
Meggen liegt an einem Sonnenhang am Vierwaldstätter See, ist eine der reichsten Gemeinden des Kantons Luzern und zahlte ihren Lehrern die höchsten Ortszulagen. Vor der Wahl des neuen Sekundarlehrers empfahl der katholische Pfarrer seinen Gläubigen von der Kanzel aus, den Doktor Näf nicht zu wählen, er sei ein Apostat, dem man Jugendliche nicht anvertrauen dürfe. Für die mehrheitlich katholischen, aber liberal denkenden Megger Bürger war das eine unzulässige Einmischung in ihre politischen Rechte und sie wählten mich trotzdem. So bekam ich meine erste feste Stelle, zwar nicht als Psychologe, aber an einer Sekundarschule an einem wunderschönen Ort. In zwei Klassen musste ich nun 50 Mädchen und Buben zwischen 13 und 15 Jahren,
alle in einem Schulzimmer, in sämtlichen Fächer unterrichten, auch in den naturwissenschaftlichen, in denen ich nicht ausgebildet war. Nach Elba hatte ich Unterlagen mitgenommen, um mich auf die mir stofffremden naturwissenschaftlichen Fächer vorzubereiten. Mimi hatte mir dabei geholfen. Sie war als Ärztin naturwissenschaftlich gut ausgebildet, und es machte ihr Spass, mich zu unterrichten. In meiner Arbeit hat sie mich überhaupt immer gut und gern unterstützt, sogar stundenlang Texte mit Maschine getippt. Sie hätte es sich damals sogar vorstellen können, ihren Beruf nicht auszuüben. Da ich aber nur knapp 800 Franken verdiente, waren wir finanziell eher knapp und deshalb begann Mimi, Vertretungen für Ärzte der Umgebung anzunehmen.
Im ersten Jahr war das Unterrichten besonders schwierig. Das Programm musste für jede Stunde inhaltlich und zeitlich sorgfältig durchorganisiert werden. Wenn ich mit der ersten Klasse etwas Neues besprach, musste die zweite Klasse still beschäftigt werden und das mit 50 Jugendlichen im gleichen Schulzimmer. Bei den kleinsten Störungen durch Unvorhergesehenes, wie Fragen, Unruhe von Schülern oder gar Disziplinproblemen geriet die Planung durcheinander.
Das Luzerner Schulgesetz sah vor, dass man eine Schulklasse mit über 30 Schülern trennen könne, was in der Regel nach Geschlechtern zu geschehen habe. Die Schulpflege schlug auf meinen Antrag hin vor, eine naturwissenschaftlich ausgebildete Lehrperson anzustellen. Der Kanton lehnte diesen Vorschlag ab, ebenso das Bundesgericht, an welches die Gemeinde appelliert hatte und zwar mit der Begründung, der Kanton habe gesetzeskonform gehandelt. Es wurde also nach meinem ersten Jahr für den Unterricht der Mädchen eine Kollegin angestellt. In der Gestaltung des täglichen Unterrichtes waren wir beide relativ frei und niemand reklamierte, als wir Rechnen und Französisch klassenweise für Buben und Mädchen gemeinsam unterrichteten.
Ein Problem war der Religionsunterricht der katholischen Buben, der morgens von 8 bis 9 Uhr stattfand. Der Vikar wurde der Bubenbande überhaupt nicht Meister und wenn ich ihn um 9 Uhr ablöste, fand ich ein schwitzendes Häufchen Elend vor. Meine Ermahnungen in Gesprächen mit den Schülern, sich beim Vikar anständiger zu verhalten, brachten auf die Dauer nicht viel, da der Vikar nicht die innere Stärke hatte, gegen die Dynamik einer lebendigen Bubengruppe anzukommen. Meine Ratschläge halfen ihm auch wenig. Die Schüler wünschten schliesslich, ich möchte in den Religionsunterricht hineinsitzen, damit sie ruhig sein könnten. Daraufhin hielt ich jede Woche eine Stunde Wache im katholischen Religionsunterricht. Das wurde mir in der Gemeinde hoch angerechnet, sodass ich bei der nächsten Lehrerwahlen sehr gut abschnitt.
Die Suche nach einem neuen Unterrichts- und Erziehungsstil
Mimi war in der deutschen Schule in Peking, wo sie das Abitur gemacht hatte und auch zu Hause sanft autoritär erzogen worden, ähnlich wie ich im Internat und in der Familie. Wir wollten unsere Kinder nicht nur zu Anpassung und Gehorsam erziehen, sondern auch zur Bereitschaft, sich aus Einsicht einzuordnen und zu gehorchen, und auch zum Mut, eigene Meinungen zu vertreten und sogar, nicht zu gehorchen. Dieser Erziehungsstil war, besonders in den Schulen, ein Novum und wurde auch als Modell für Kindererziehung skeptisch aufgenommen oder gar abgelehnt. Ich war selber unsicher und suchte Hilfe in der Erziehungsliteratur und in vielen Gesprächen. Erst als ich von meinem Urlaub in Korea zurück war, fand ich eine systematische Weiterbildungsmöglichkeit.
Am Institut für angewandte Psychologie in Zürich war ein Kurs in Individualpsychologie ausgeschrieben. Alfred Adler, ein Schüler von Freud, hatte schon in den 20er Jahren des vorletzten Jahrhunderts in Wien mit Lehrern zusammen gearbeitet. Seine Individualpsychologie war aber nur einem kleinen Kreis als brauchbare Erziehungsmethode bekannt geworden. Während zwei Jahren fuhren Mimi und ich mit dem alten VW, den wir uns 1956, nach meinem Koreaaufenthalt, an Stelle des Motorrades hatten leisten können, wöchentlich abends nach Zürich. Die Individualpsychologie wurde eine sehr geschätzte Hilfe, um unsere eigenen Kinder besser zu verstehen und weniger autoritär zu erziehen. Ich hatte schon 3 Jahre Lehrtätigkeit hinter mir und lernte damit auch, meine pädagogischen Grundanliegen in der Schule differenzierter und wirkungsvoller zu verstehen und zu vertreten. Auf den nächtlichen Heimfahrten diskutierten Mimi und ich das Gehörte und verbesserten dadurch unserer Praxis laufend. Dies wurde zur Basis unserer pädagogisch-psychologischen Tätigkeiten. Ich hatte zwar schon im Studium jahrelang Psychologie- und Pädagogikausbildung genossen, dadurch aber für die praktische Arbeit nur wenig profitiert. Die Individualpsychologie dagegen half mir für die Erziehung der eigenen Kinder und für die Arbeit in der Schule unvergleichlich mehr. Durch sie habe ich auch die Reformpädagogik kennen gelernt. Diese war schon am Anfang des 20. Jahrhunderts, mit dem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ von Ellen Kay weltweit bekannt geworden. Aber erst 50 Jahre später, nach dem 2. Weltkrieg, wurde sie allmählich ernst genommen.
In den Jahren vor dieser Ausbildung habe ich natürlich laufend pädagogische Erfahrungen sammeln können. Wichtige Entdeckung, die mein Lehrerleben in Meggen sehr erleichterten, machte ich auf dem Heimweg von der Schule , den ich oft mit einigen meiner Schülern plaudernd zurücklegte. Irgendwie kamen wir auf die Idee, die Turnstunden im Sommer in die Badanstalt zu verlegen. Das Schulhaus ist ja nicht weit vom See entfernt. Sobald die „Badi“ anfangs Sommer offen war, beendeten wir den Unterricht schon um 4 Uhr statt um halb fünf und gingen eine halbe Stunde schwimmen. Voraussetzung war, dass die Klassen beim „normalen“ Unterricht gut mitgearbeitet hatten. Nach dem Schulschwimmen konnten alle noch so lange gratis in der Badi bleiben, wie ihre Zeit es erlaubte.
Es ergaben sich beim Schwimmen drei ungefähr gleich grosse Gruppen: die guten Schwimmer, die zum Teil geschickter waren als ich, verbesserten ihre Künste meistens am Sprungturm und übten zum Teil mit den mittleren. Ich beschäftigte mich vorwiegend mit den Anfängern. Ed Diller, ein Freund aus Los Angeles, wohnte damals einige Wochen bei uns und besuchte mich oft beim Schwimmunterricht. Dafür interessierte er sich besonders, denn daheim war er beruflich als Lehrer und Bademeister tätig. Von ihm habe ich erfahren, dass neue Anforderungen, wie schwimmen lernen bei Kindern und Erwachsenen oft Angst und Verspannungen auslösten, sodass sie nicht mehr richtig atmen, zuhören und sich konzentrieren können. Ich hatte bis dahin nichts anderes gehört, als dass man Angst überwinden müsse. Üblich waren in meinem Erfahrungsbereich etwa folgende „Aufmunterungen“ gewesen: „Reiss dich zusammen“, „Tue ned so tomm“. Der innere Schweinehund musste überwunden werden! Ed erklärte den Schülern und mir unter anderem, dass die guten Schwimmer den Schwachen helfen könnten, wenn sie, statt sie auszulachen, ihnen etwas zeigten und ihre Fortschritte lobten. Das sei gute Kameradschaft und in einer Schulklasse sei diese ganz wichtig. Die Schüler nahmen ihn sehr ernst, nicht nur weil damals alles Amerikanische bewundert wurde, sondern weil er uns grundlegende neue soziale Umgangsformen vermittelte. Von Pestalozzis Helferprinzip hatte ich zwar schon gehört, es aber noch nie so bewusst praktiziert. Bewusste gegenseitige Hilfe von Schülern beim Lernen war in meinem Schülerleben immer verboten gewesen. Einander auslachen und plagen galten, besonders bei Buben, als natürlich und in gewissem Ausmass zum Leben gehörend. Durch Ed lernte ich an Stelle von fordern zu ermutigen. Dazu kamen Anfänge von Gruppenunterricht in meine Schularbeit hinein und damit ein weiteres neues Element von sozialem Lernen. Es gehörte damals zwar auch zu den Aufgaben der Lehrerschaft, Kindern eine respekt- und liebevolle Grundeinstellung gegenüber andern Kindern und vor allem den Erwachsenen gegenüber zu vermitteln. Solche und weitere Tugenden wurden vom Pfarrer, von den Lehrkräften und den Eltern gepredigt und deren Verletzungen mit Strafen geahndet. Dass man positives soziales Verhalten einüben könnte, leuchtete mir sehr ein, wurde damals aber kaum praktiziert. Es galt, die asozialen Regungen zu unterdrücken, so wie es schon in der Bibel stand: „Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn.“
In den 50er Jahren war es auch nicht üblich, dass Frauen Kopfsprünge machten. So war es eine Sensation, als die Frau Lehrer (Mimi) meinen Schülern einen „Köpfler“ vom 3-Meter Brett demonstrierte. Die Einordnung meiner Frau war auch sonst für etliche Dorfbewohner/Innen ein Problem. Müssen wir ihr „Frau Lehrer“ oder „Frau Doktor“ sage? Heute, wo man sich fast überall mit dem Vornahmen anspricht, wirken solche Titelprobleme als lächerliche Überreste einer feudalistischen Denkweise. Vieles was in den USA schon vor 50 Jahren üblich war, z.B. sich mit dem Vornamen anzusprechen, wird bei uns zwar langsam auch üblich. Der Kontakt mit Ed Diller und andern Amerikanern, sogar mit Armeeangehörigen in Korea, haben mir sehr viele Anregungen für einen offeneren, optimistischeren und kooperativeren Umgang gebracht.
Auch die folgende Veränderung in meinem Schulbetrieb ist in diesem Zusammenhang entstanden. Damals hatte man am Samstag Vormittag noch Unterricht und es war in vielen Schulen Sitte geworden den Schülern von 11 bis 12 zum Wochenabschluss Geschichten vorzulesen, wenn sie während der Woche brav gelernt hatten. Ich fing an, statt ihnen vorzulesen, mit ihnen darüber zu reden, wie wir miteinander umgegangen waren, wie sie sich während der Woche verhalten und wie sie gelernt hatten. Wir entdeckten, dass es sehr wichtig war, über unser Zusammenleben und unser zusammen lernen zu sprechen, Wege zu suchen, wie es den Schülern und auch dem Lehrer wohl sein könne. Etwa 50 Jahre später wurde das Klassengespräch in Basel in einigen Schulen als Neuerung eingeführt und ich konnte im Auftrag des Lehrerfortbildungsinstitutes ULEF entsprechende Kurse geben.
Ich war vom Beginn meiner Lehrertätigkeit ein Gegner der schwarzen Pädagogik gewesen und fing an, auch in der Öffentlichkeit eine kinderfreundliche Erziehung zu vertreten, indem ich entsprechende Artikel in Zeitschriften schrieb und Vorträge hielt. Ich habe damals auch angefangen, meine Erfahrungen mit Kollegen zu besprechen, was damals eher unüblich war. Als Lehrer hatte man keine Schwierigkeiten zu haben! Wenn Schüler solche machten, musste man handeln und nicht lange palavern.
Wenn ich auf diesen Abschnitt meines Lebens zurückschaue, bin ich erstaunt und auch erfreut, wie aktiv ich meine pädagogischen Probleme angegangen bin. Dabei war ich ein Optimist, ein Idealist und Weltverbesserer, ohne dass ich mich als solchen fühlte. Die Gedanken von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Toleranz schienen mir die einzig normalen Einstellungen zu sein. Dass man durch eine konstruktivere Erziehung die Welt verbessern müsse, war meine mir nicht bewusste Grundhaltung. Probleme waren da, um in christlichem Geist, das hiess für mich auf der Basis der Nächstenliebe, gelöst zu werden. Dass Schulen Wissen und Fertigkeiten vermitteln mussten, war unbestritten, welche und in welchem Rahmen weitgehend ebenfalls. Dass sie aber auch die Aufgabe hatten, Menschen zu erziehen, den Charakter zu bilden, Wertvorstellungen und konstruktives soziales Verhalten zu lehren, war mir erst im Verlauf meiner Lehrertätigkeit richtig bewusst und von da weg ein Lebensthema geworden.
In Mimi hatte ich eine ähnlich gesinnte, zupackende, unternehmungsfreudige, überaus tüchtige und intelligente Lebensgefährtin. Dazu konnte sie jeder Tätigkeit eine gute Seite abgewinnen. Langweilige Routinearbeiten forderten sie heraus, sie optimal zeit- und kraftsparend zu planen und zu erledigen. In der Familie war sie berühmt als Mimi, die alles kann und alles gern macht. In China war sie bis zum 18. Lebensjahr von Dienstboten bedient und verwöhnt worden, hatte keine Ahnung von Hausarbeiten, wie kochen, nähen, waschen und erledigte aber all das mit grösster Selbstverständlichkeit. Nach der medizinischen Grundausbildung vertrat sie Ärzte zu deren vollen Zufriedenheit. Klettern, segeln, stundenlang konzentriert Auto fahren, Kinder erziehen, Punktschrift lernen, um Martin in der Schule zu unterstützen, später in Basel Artikel schreiben, in der Sandoz den Chef vertreten, alles machte sie gern und gut, auch jassen, zeichnen und malen.
Durch Mimi, die in Peking zur Welt gekommen, dort zur Schule gegangen war, ein deutsches Abitur gemacht und das Medizinstudium angefangen hatte, lernte ich eine ganz neue Welt kennen. Schon ihre Familiengeschichte war ungewöhnlich. Ihr Vater war Elsässer, Uhrenmacher, vor dem ersten Weltkrieg aus Liebeskummer nach China ausgewandert, wo er in Peking ein eigenes Geschäft aufbaute und eine Halbchinesin heiratete. Diese war als Pianistin ausgebildet, erzog nach dem frühen Tod ihres Mannes die drei Töchter allein und führte das Geschäft mit Erfolg weiter. Als die Kommunisten Peking besetzten, musste Mary Clémann die 100 Angestellten entlassen, das Geschäft liquidieren und 1949 als Französin China verlassen. Sie hatte diese Entwicklung vorausgesehen und die beiden älteren Töchter schon 1948 zum Studium nach Europa geschickt. Rosi studierte in Genf Sprachen und Mimi in Zürich Medizin. Mimi hatte für ihre Mutter und die Schwester Marthe in Zürich eine kleine Wohnung gefunden. Rosi hatte das Studium aufgeben müssen, um den Lebensunterhalt für alle durch Arbeit bei der internationalen Flüchtlingshilfe in Genf sicher zu stellen.
Seit ich mit Mimi verbunden war, hatte sie mir natürlich häufig von ihrem Leben in China erzählt, sodass mein Interesse an diesem rätselhaften Land mit der reichen, uralten Kultur wuchs. Auch die Menschen, von denen Mimi berichtete, die geduldige, liebevolle Ama, der fixe Kuli, der jeden Morgen das Fahrrad bereitstellte, immer lachte und gern Majong spielte, der betrügerische Koch, alle und alles war fremd und hochinteressant. Mit Mary und Marthe und Rosi wurde alles noch lebendiger und aufwühlender. Die militärischen und politischen Ereignisse in fernen Osten, den Krieg in Korea verfolgten wir natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit. Auch als Mary und Marthe nach Genf gezogen waren und Mimi und ich mit unserem Sohn Thomas, der Ende Dezember 1953 auf die Welt kam, in Meggen lebten, war der ferne Osten allgegenwärtig.
Als 1953 nach endlosen Verhandlungen zwischen Nord- und Südkorea ein Waffenstillstand zu Stande gekommen war, wurde auch die Schweiz von der UNO gebeten mitzuhelfen, diesen zu überwachen. Dazu suchte man Freiwillige, vor allem Offiziere. Mimi hatte mir immer wieder von ihrer früheren Heimat erzählt, aber wir hätten uns nie träumen lassen, je einmal dorthin reisen zu können und jetzt bestand unverhofft eine Gelegenheit, in den fernen Osten zu kommen, wenigstens für mich. Allerdings wurden gute Englischkenntnisse verlangt und die hatte ich nicht, denn in der Schule hatte ich nur ein Jahr Englischunterricht gehabt. Erst als Werner, ein Kamerad von der Offizierschule, aus seinem halbjährigen Einsatz in Korea zurück kam und erzählte, stundenlang erzählte, fingen wir richtig Feuer und begannen, Pläne zu schmieden.
Die Familie und die Lehrerstelle ein halbes Jahr verlassen und in Korea als Mitglied der Schweizer Delegation im Rahmen der internationalen Kommission den Waffenstillstand überwachen?
Als Blauhelm in Korea
Der Gedanke faszinierte nicht nur mich, sondern auch Mimi. Was Werner erzählte, war so faszinierend, dass die Frage, ob ich mich auch für den Einsatz in Korea melde, gar kein Gewicht mehr hatte und unsere Gespräche nur noch um das Wie kreisten. Als erstes verbrachte ich die Sommerferien in London, um noch besser Englisch zu lernen und dann musste ich vom Kanton Urlaub bekommen. Mimi wollte und musste in Meggen bleiben und für die Kinder sorgen. Im Juli 1955 war Martin auf die Welt gekommen und schon vorher hatte die Tagesmutter, die Thomas betreute, wenn Mimi beruflich tätig war, aus familiären Gründen Meggen verlassen müssen. Wir mussten für sie Ersatz und eine grössere Wohnung finden. Für alles fanden wir bald befriedigende Lösungen.
Von der Schule wurde ich ohne weiteres beurlaubt, da ich ja eine quasi patriotische Pflicht auf mich nahm. Im September 1955 reiste meine Ablösung via Frankfurt-Washington-San Francisco-Honolulu-Tokyo nach Pamunjom, dem Hauptquartier der neutralen Überwachungskommission des Waffenstillstandes in Korea in der entmilitarisierten Zone in Korea. Dabei hinterliess ich Mimi, mit Thomas, Martin und einer neuen Hilfe für Haushalt und Kinderbetreuung, eine Barbara aus Westfahlen. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, die Familie so lange zu verlassen. Mimi machte es mir aber leicht, sie war bereit sich den Kindern zu widmen und zwischenhinein, wenn es möglich werden sollte, sogar Stellvertretungen zu übernehmen. Es klappte denn auch alles vorzüglich, da Barbara Gold wert war.
Zum Bericht über meine ersten Eindrücke in Korea
In Meggen wollte man, als ich nach einem halben Jahr heimkehrte wissen, wie es denn in Korea gewesen sei. Die Staatsbürgerkommission lud die „sehr verehrten Mitbürgerinnen und Mitbürger 1957 auf den Samstag 27. Februar ins Hotel Kreuz ein, wo Dr. Hans Näf über die Arbeit der neutralen Überwachungskommission in Korea berichten und zur Frage der Neutralität Stellung nehmen und dazu farbige Lichtbilder zeigen werde“. Einige Jodellieder von Vreneli Schwarz umrahmten den Anlass und im Luzerner Tagblatt erschien ein Bericht.
Da ich mehr als genug Zeit hatte zum Schreiben und Lesen, besitze ich noch eine Unmenge Briefe an Mimi und von ihr an mich. Diese haben vielleicht, zusammen mit meinen mehr distanzierten Berichten, auch historischen Wert. Ebenso wichtig wie die kulturhistorischen Aspekte waren mir die persönlichen Erfahrungen. Ich hatte nicht nur östliche Kultur erleben und studieren können, wozu ich viel Zeit hatte, sondern mit Koreanern, Japanern, Chinesen, Amerikanern, Schweden, Polen und Tschechen und den Schweizer Kameraden natürlich stundenlang Gespräche führen können. Ich wurde wendiger und selbstsicherer im Umgang mit Menschen und lernt andere Welten kennen. Bereichert und voller Energie und Freude, übernahm ich meine Aufgabe in Meggen wieder. Diese waren inzwischen für meinen Stellvertreter in der Schule wenig erfreulich gewesen. Er hatte mit der Führung der Klasse während des halben Jahres erhebliche Schwierigkeiten gehabt. Er, die Schüler und die Schulpflege waren glücklich, als ich wieder zu unterrichten anfing.
Als Vormund
Kaum hatte ich meine Pflichten wieder übernommen, bat mich der Gemeinderat, eine besonders heikle Vormundschaft zu übernehmen. Zwar sei jedes Gemeindemitglied dazu verpflichtet, als Lehrer und Psychologe sei ich aber besonders geeignet, Vormund eines 15-jährigen Burschen zu werden. Der Junge sei von frühester Kindheit weg immer nur administrativ versorgt worden, und hätte, wohl aus einem Versehen heraus, bis jetzt keinen Vormund gehabt. Im jetzigen Heim sei er untragbar und die Leitung verlange eine sofortige Umplatzierung. Kurt sei immer wieder in ein anderes Kinderheim platziert worden, wenn es im alten nicht mehr ging.
Natürlich fuhr ich sofort zu ihm in die Ostschweiz. Dass dadurch der Unterricht für einen Tag ausfiel, beunruhigte weder die Schulpflege noch die Schüler, denn der Fall war dringend. Wie oft er noch dringend werden würde, ahnte niemand. Kurt war als 14jähriger in der vierten Klasse, also weit zurück. Er sei nicht nur geistesschwach, sondern auch verlogen, unfolgsam und aggressiv. Ich solle ihn gleich mitnehmen, eröffnete mir der Heimleiter. Vor ein paar Tagen habe Kurt ein Tintenfässchen an die Wandtafel geschmettert, das eigentlich den Lehrer hätte treffen sollen. Das habe das Fass zum Überlaufen gebracht.
Der magere, finster blickende, einsilbige Bub, der behauptete, der Lehrer hasse ihn, tat mir so leid, dass ich ihn gleich mitnahm. So wurde er unverhofft Mitglied unserer Familie und Schüler der Abschlussklasse Meggen. Mimi, Euli und die beiden Buben hatten nichts einzuwenden gegen das neue Familienmitglied. Aber bald wurde er eine Last, denn jeden Morgen stank er nach Urin, behauptete aber, nicht ins Bett gemacht zu haben. Er log auch sonst, redete kaum, gab auf Fragen keine Antworten, störte Thomas beim Spielen und leistete gegen alles, was ihm nicht passte, Widerstand. In kürzester Zeit erlebten wir eine völlige Zerstörung unseres Familienlebens. Der Lehrer berichtete sehr bald Ähnliches, er könne und wolle Kurt nicht in der Klasse behalten, er gehöre in eine Erziehungsanstalt. Viel von Kurts Kindheit war nicht zu erfahren. Aus den Gemeindeakten erfuhr ich, dass die Mutter ihn bald nach der Geburt verlassen habe und man ihren Aufenthalt nicht kenne. Der Vater sei Alteisenhändler, kümmere sich auch nicht um den Buben. Die Heimatgemeinde , das heisst Meggen, habe für ihn immer wieder gezahlt und die Vormundschaftsbehörde des Kantons habe ihn in Heimen untergebracht. Bald mussten wir erkennen, dass wir Kurt nicht in der Familie behalten konnten, aber wohin mit ihm? Irgendwie entdeckte ich eine Lösung: Im Kantonsspital in Luzern hatte in der Dermatologie eine Krankenschwester ein paar Betten zur Verfügung, um mit Bettnässern Entwöhnungskuren durchzuführen. Als ich Kurt zu ihr brachte, umarmte sie ihn, drückte ihn an ihren Busen und versprach ihm, dass er hier keine Angst haben müsse und sie für ihn sorgen werde. Im Gespräch sagte sie mir dann, solch arme Teufel habe sie schon einige, auch viel ältere, heilen können, aber es brauchte, Liebe, Geduld und Zeit. Die ganze Welt sei sicher auch für Kurt wie ein böser Feind, gegen den er sich wehren müssen. Auch er brauche Geduld und Liebe, damit er sich von seinem bisherigen Leben erholen könne. Dazu werde er einige Wochen oder Monate brauchen. „Und Sie müssen für ihn, wenn er dann nicht mehr Bettnässer ist, einen guten Platz finden.“
So fing ich an, Heime für Jugendliche zu suchen und hörte von einem „guten Heim“ im Kanton Baselland. Am Telefon musste ich dem Leiter des Erlenhof alles, was ich von Kurt wusste, erzählen. Herr Müller, er verdient es namentlich erwähnt zu werden, erklärte mir, dass dieser Bub auf keinen Fall wieder in ein Heim versenkt werden dürfe. Er hätte so viele negative Erfahrungen in Heimen gemacht, dass er nur abwehren und angreifen könne. Er werde ihn nicht aufnehmen und rate mir, ihn von nun an zu nichts mehr zu zwingen, ihn zu unterstützen und herauszufinden, was er könne und gern tue. Ich müsse ihn machen zu lassen, was er gern möchte und wie er wolle und ihm immer wieder aus allen Patschen helfen. „So hat er 50% Chancen, dass er einen Weg ins Leben findet und nicht in Gefängnissen oder in der Psychiatrie endet.“ Von da weg folgte ich Herrn Müllers Rat, denn irgendwie leuchtete er mir ein, mindestens wusste ich nichts Gescheiteres. Es gebe nur eine Chance: Man solle ihn frei lassen und ihm einfach nur helfen, sobald er irgendwo in Not gerate oder die Leute ihn nicht mehr wollten.
Nach etwa 2 Monaten war Kurt trocken, etwas freundlicher und zugänglicher und wurde aus dem Spital entlasse. Er wollte in Meggen bei uns wohnen und irgend etwas arbeiten, sicher aber nicht mehr zur Schule gehen. So hatten Mimi und ich uns das zwar nicht vorgestellt, auch Euli nicht, aber wir wollten es nochmals versuchen, und der Besitzer einer Brennerei in Meggen, der gerade einen Hilfsarbeiter brauchte, engagierte ihn. Nach etwa 3 Monaten entliess er ihn Knall auf Fall, da er aus Unachtsamkeit an einer Maschine grossen Schaden angerichtet hatte. Was nun? In der Familie war es mehr schlecht als recht gegangen. Wir waren aber sehr froh, als Kurt sagte, dass er fort möchte, weg von Meggen, weg aus der Deutschschweiz, ins Welschland. Wir hatten keine Ahnung, wie er auf diese Idee gekommen war, er konnte dazu nur immer sagen: “Ich will fort, wo mich niemand kennt.“ Ich war völlig ratlos und konnte mir nicht vorstellen, dass das gut gehen konnte. In der Not klammerte ich mich an Herr Müllers Rat, der mir am Telefon sagte: “Probieren sie es“. Durch eine Annonce fand ich im Unterwallis für Kurt erstaunlich rasch eine Stelle als Knecht bei einem Bauern. Dieser war ein „ausgewanderter“ Deutschschweizer, der, schon am Telefon, viel Verständnis für Kurt aufbrachten. In den folgenden Monaten ging er mich immer wieder um Rat an, wenn er mit Kurt nicht mehr weiter wusste. Kurt wurde schnell ein geschickter Karrer, der mit den Tieren liebevoll umging, mit den Mitarbeitern dagegen immer wieder Krach hatte. Nach mehr als einem Jahr musste der Bauer Kurt entlassen, obwohl er mit seiner Arbeit sehr zufrieden war. Wenn er das nicht tue, würden sie alle kündigen, hatten die andern Mitarbeiter gedroht.
Danach hatten Kurt und ich schwierige Zeiten. Er verlor seine Stellen über kurz oder lang immer wieder, Zimmer wurde ihm gekündigt, da er nicht zahlen konnte, die Polizei hielt ihn wegen kleiner Verfehlungen oder Betrügereien fest. Die Notsituationen entstanden immer nach dem gleichen Muster: Kurt bekam mit Kollegen oder einem Vorgesetzten Krach, weil er sich zu wenig geschätzt oder gar schikaniert fühlte und er wurde gekündigt, obwohl die Arbeitgeber mit seinen Leistungen meist zufrieden waren. Bis er wieder eine Stelle hatte, ging ihm das Geld aus und er versuchte sich mit krummen Touren zu sanieren. Erst in der grössten Not telefonierte er mir. Dann musste ich sofort zu ihm fahren, weil zum Beispiel die Polizei ihn festhielt, die Zimmervermieterin ihn nicht mehr in die Wohnung liess und seine Kleider als Pfand behielt, oder wenn er vor Gericht oder wieder bei der Polizei erscheinen musste. In solchen Situationen pflegte er zu lügen und aggressiv zu werden, aber ich konnte die empörten Gemüter meistens beruhigen, Lösungen finden, z.B. indem ich Schulden beglich, Geld vorschoss oder von Kurts trauriger Jugend erzählte, sodass Verständnis wuchs und man Milde walten liess. Kurt hat mir übrigens bis auf den letzten Rappen, den ich ihm geliehen hatte, alles zurückbezahlt.
Die erste Stelle als Knecht war ein Glücksfall gewesen, weil der Meister Kurts Liebe zu Tieren, seine Freude am Arbeiten und seine Geschicklichkeit entdeckt hatte. Er wurde, nach einer Reihe von Tätigkeiten in Fabriken und in der Landwirtschaft, Chauffeur-Livreur, lernte recht gut französisch und wurde nebenbei Unteragent eines Versicherungs-Vertreters. Als Kurt mehr Abschlüsse machte als sein Auftraggeber, wurde er selber Vertreter für Lebensversicherungen. Es gelang ihm, für die Winterthurer Versicherung eine Agentur zu übernehmen, wobei er mehr verdiente als ich als Sekundarlehrer. Bis er so weit war, war ich allerdings nicht mehr sein Vormund, sondern sein Berater, den er nur bei seltenen Gelegenheiten von sich aus aufsuchte. Ich hatte nämlich, als er volljährig geworden war, beantragt, die Vormundschaft aufzuheben. Von da weg kam er gelegentlich wieder zu Besuch, zum letzten Mal anfangs der 80er Jahre, als seine Ehe nach 4 Jahren geschieden worden war. Damals war er, nach etlichen Berufswechseln, Vertreter für Dacia Autos. Es gehe ihm, trotz verschiedener Rückschläge beruflich und privat recht gut. Das führte er vor allem darauf zurück, dass er einen Kreis von Menschen gefunden habe, in dem er sich voll akzeptiert fühle. Er verbringe jedes Wochenende auf einem Campingplatz in den Bergen in seinem Wohnwagen und sie seien dort wie eine grosse Familie. Was wohl in den vergangenen 30 Jahren aus ihm geworden ist?
Nach meiner Rückkehr aus Korea
genossen wir es in der Familie sehr, wieder beieinander zu sein. Auch beruflich fühlte ich mich sicherer, sowohl in der Methodik der Stoffvermittlung, als auch im Führen der Klasse und im Kontakt mit den einzelnen Schülern. Das halbe Jahr hatte mir nicht nur viele Erlebnisse gebracht, sondern mich reifer und vor allem selbstsicherer gemacht. Dadurch wurde ich nicht nur als Lehrer entspannter, beweglicher, sondern auch zufriedener mit mir selber.
In den Jahren nach Korea war mein Verhältnis zu den Schülern noch freundschaftlicher, spontaner und fröhlicher. Auch mit den Kollegen und überhaupt in der Gemeinde fühlte ich mich wohl. Der Ausbildungskurs in Zürich bereicherte Mimi und mich sehr. Dazu kam eine Anfrage von Luzern, die mich einlud, einen halben Tag in der Woche am neu eröffneten Schulpsychologischen Dienst mitzuarbeiten. Hier wurden vor allem Intelligenztests mit leistungsschwachen Kindern durchgeführt, um abzuklären, ob sie in die Hilfsklasse gehörten. Es war ein rudimentärer Ansatz von Schulpsychologie, aber ich lernte einiges.
Am Lehrerberuf hat mir damals vor allem der Kontakt zu den Menschen gefallen, das Unterrichten dagegen nicht besonders, denn es war doch immer wieder Kampf um die Aufmerksamkeit der Schüler. Häufig hatte ich das Gefühl, ihnen Stoffe aufzudrängen, die auch mir nicht wichtig waren. Den mathematisch-naturwissenschaftlichen Teil des Stoffes musste ich zuerst zu Hause selber lernen, damit ich ihn unterrichten konnte. Dazu brauchte ich manche Stunde und war dann im Unterricht doch unsicher, weil ich ja nicht aus dem vollen schöpfen konnte. Dazu kam die langweilige Korrigiererei, die mir richtiggehend zuwider war. Ich wollte mehr Menschen unterstützen, sie beraten, für sie da sein, ohne sie zu etwas zwingen zu müssen, nicht sie belehren, prüfen, bewerten usw. Aber ich war nicht unglücklich, im Gegenteil. Ich war mit der Familie sehr glücklich, hatte gut menschliche Beziehungen in und um Meggen, war als Lehrer geschätzt. Dazu wohnten wir im Fernblick, hoch über dem See in einer grossen, bequemen, zahlbaren Wohnung mit einer fantastischen Aussicht am Rand eines herrlichen Waldes in einer der allerschönsten Gegenden der Schweiz.
Mimi war inzwischen auch mit der Gemeinde, der ganzen Gegend und den Menschen sehr verbunden und fühlte sich immer mehr zu Hause. Dadurch dass sie nicht nur in Horw und Emmenbrücke, sondern auch in Meggen als stellvertretende Ärztin tätig war, lernte sie viele Menschen kennen und genoss ebenfalls ein grosses Ansehen. Da sie bescheiden und schlicht auftrat, wurde sie beliebt und hatte viele gute Kontakte.
So wäre eigentlich alles bestens gewesen, wenn ich den Berufswunsch Psychologe hätte begraben können. Was wollte ich eigentlich noch mehr? Genau wusste ich es ja nicht, aber so wie in Luzern arbeiten, so schmalspurig sicher nicht! Und in keinem Beruf gefällt dir alles!
Im Militär, in den jährlichen Wiederholungskursen, hatte ich immer wieder Kontakte mit Kameraden aus Basel, so auch mit einem Juristen, der mich schon einmal als Leiter eines Kinderheims hatte engagieren wollen. Im Winter-Gebirgs-WK der 8. Div. in Hospental 1959 sagte er mir gleich beim Einrücken: „Jetzt habe ich die Stelle für dich! Der Schulpsychologe wird pensioniert und wir benötigen einen Psychologen, der Erfahrungen hat mit Schule. Du musst nach Basel kommen!“
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