Hans Näf Leben und Wirken
Lebensgeschichte
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Zum Schreibprozess
Die ersten 7 Jahre
in der "Heimat" in
Wolhusen
In der Klosterschule
Engelberg
1. bis 8. Klasse
Kriens Alpenstrasse
ab Ostern 1931
1948 - 52 Studium
an der Universität
Basel und die
grosse Liebe
1946/47 zwei
Semester in Paris
Militär
1945/46
Familienleben
1945/46 Studium
an der Universität
Zürich
Die Zeit nach 1959
Schulpsychologe in
Basel 1959 - 73
Meine eigene
Familie in Meggen
Meine Zeit als
Sekundarlehrer
Bergsteigen und
Skifahren
Erlebte
Schulgeschichte
Die ersten 7 Jahre in der „Heimat“ in Wolhusen 1925 - 1932
Ich wurde am 5. August 1925 nahe der Kirche in Wolhusen geboren. Es war eine Hausgeburt, an die ich mich natürlich nicht erinnern kann, aber meine Mutter hat mir erzählt, es sei sehr schmerzhaft gewesen und habe lange gedauert. Jedenfalls kam ich gesund auf die Welt und hatte mit meinen Eltern eine sehr gute Wahl getroffen.
Meine Mutter
Josefine Marfurt war das dritte Mädchen der Wirtsleute „Zur Eintracht“ und ist nur wenige hundert Meter vom Haus, in dem sie mich geboren hatte, aufgewachsen. Sie sei ein fröhliches, hübsches Kind gewesen, bei allen beliebt und eine gute Schülerin, ausgenommen im Schönschreiben. Davon und dass sie im Rechnen besonders schnell gewesen sei, hat sie noch in hohem Alter erzählt und damit begründet, warum sie während ihres ganzen Lebens nicht gern geschrieben, aber immer gern gerechnet habe. Nach einem halbjährigen Welschland-Aufenthalt als Au Pair-Mädchen besuchte sie eine Haushaltsschule bei Klosterfrauen, die ihr Sittenlehre, gutes Benehmen und Haushaltführung beibrachten. So wurde sie auf ihre Rolle als Serviertochter im elterlichen Betrieb vorbereitet. Unter dem strengen Regime ihrer ältesten Schwester Emilie hatte sie, gemeinsam mit Marie, der zweiten Schwester, Haus, Küche und Restaurant zu besorgen. Ihre Mutter sei meistens krank gewesen und im abgedunkelten Zimmer gelegen, wo sie nach Möglichkeit strickte oder Wäsche besorgte. Sie war ein betreuungsbedürftiger Mensch und konnte wenig mithelfen, dazu schwerhörig. Mehr habe ich über sie nicht gehört, von ihr wurde aber liebevoll und voller Mitleid geredet.
Umso wichtiger war der Vater Heiri, ein hoch gewachsener Mann, voller Kraft und auch intelligent und integer. Nicht nur die Töchter achteten und liebten ihn, er war auch in der Gemeinde angesehen. Ihm war das damals sehr wichtige Amt des Friedensrichters anvertraut. Damit war er gemeindeintern die erste Instanz, wenn es um Beurteilung und Schlichtung von Streitigkeiten ging. Er sei streng und gerecht gewesen, berichtete meine Mutter, man hätte gehorchen müssen, es hätte keine Ausreden gegeben. Einmal sei er mit ihr in den Hühnerhof gegangen, um sie zu lehren, wie Hühner getötet werden. Sie musste ein Huhn einfangen, es an den Beinen halten, es betäuben, indem sie es mit dem Kopf an den Spaltstock schlug. Dann musste sie ihm mit dem Beil den Kopf abhacken und es zum Ausbluten aufhängen. Als das 18-jährige Maitli zu heulen anfing und behauptete, das könne es nicht, erhielt es vom Vater eine Ohrfeige und dann noch eine, bis es das Huhn zum zweiten Mal einfing und den Befehl weinend ausführte. Das sei ganz schrecklich gewesen, aber sonst sei der Vater immer ein ganz Lieber gewesen und sie hätte ihn sehr gern gehabt und die Schwestern auch. „Er war auch für Männer eine Respektsperson. Wenn ein Gast zu viel getrunken hatte, musste er bezahlen und das Restaurant verlassen. Wenn er nicht gehorchte, nahm er ihn am Kragen, beförderte ihn vor die Tür, und er durfte eine gewisse Zeit nicht mehr kommen.“
Sehr beeindruckt hat mich das, was meine Mutter vom Heiraten erzählte. Sie sei meist fröhlich gewesen, trotz der vielen Arbeit und der strengen Herrschaft von Emilie. Die Schwestern hätten viel gesungen und bei jeder Gelegenheit getanzt, und die Männer hätten es natürlich auf sie abgesehen gehabt, vor allem auf die fröhliche und hübsche Jüngste. Wenn einer ihr aber zu nahe gekommen sei, hätte der Vater sofort eingegriffen. Sie habe beim Servieren natürlich mitbekommen, wie die Männer von ihren Frauen und von den Weibern überhaupt redeten. Das hätte sie derart angewidert, dass sie „keinen von denen“ heiraten wollte, sicher keinen von Wolhusen. Aber da sie auch nicht fortgehen konnte, ohne den Familienbetrieb im Stich zu lassen - denn Marie hatte geheiratet und Kinder bekommen - sei sie damals zeitweise bedrückt gewesen. Als sie 24 Jahre alt war, kam ein Beamter von der Post nebenan immer wieder einen Kaffee trinken und auf den hätte sie zu hoffen angefangen. Er sei höflich und anständig gewesen, hätte eine feste Stelle gehabt und mit ihm wäre sie von Wolhusen fort gekommen.
Mein Vater
Dieser Johann Näf, vom Nachbardorf Menznau, war zwar elf Jahre älter als Josy. Er gefiel ihr und so war sie sofort einverstanden, als ihr Vater sie fragte, ob sie ihn näher kennen lernen wolle, er hätte ihn um Erlaubnis gefragt. „Also du kannst mit ihm gehen, aber nicht, dass du mir ein Kind heimbringst“, hätte daraufhin der Vater entschieden. Darüber, wie sie zu einem Kind kommen könnte, hatte Josy nur vage Informationen, darüber habe man nicht gesprochen. Auch die Nonnen in Menzingen hätten ihren Schülerinnen keine Auskünfte darüber gegeben und, auch wenn sie es gewollt hätten, hätten sie es wahrscheinlich nicht gekonnt. Das tat dann der John, wie er von seinen Kollegen genannt wurde, auf langen Spaziergängen, als er merkte, dass Josy keine Ahnung hatte, auf was sie sich einzulassen im Begriff war. Er selber überlegte sich die Sache auch gut, liess vorsichtshalber ein grafologisches Gutachten machen mit der Frage, ob die junge Frau bildungsfähig sei. Auch sein Freund Toni musste sie inkognito beobachten und sein Urteil abgeben. John war ein vorsichtiger Beamter und wollte auf sicher gehen, denn er hatte wenig Erfahrung mit dem anderen Geschlecht. Eigentlich dachte er erst ans Heiraten, als ihm sein Arzt das Heiraten als Heilmittel gegen Nervosität und Schlafstörungen empfohlen hatte. Am 1. Mai 1923 wurde in der Kapelle in Kehrsiten am Vierwaldstättersee geheiratet. Als kein Kind kommen wollte, musste wiederum der Arzt raten. Er empfahl einen Luftwechsel mit Ferien am Meer in Italien. Das half denn auch.
Der Vater meines Vaters war in Menznau Lehrer und Posthalter gewesen und gestorben, als mein Vater 12 Jahre alt war. Mein Vater hat von ihm nicht viel erzählt, vielleicht auch nicht viel gewusst. Adolf hiess der jüngere Bruder meines Vaters und für ihn verkörperte mein Vater die männliche Autorität in der Familie. Als mein Grossvater, den ich nie gekannte hatte, gestorben war, bat die Mutter meines Vaters die Oberpostdirektion, die Stelle ihres verstorbenen Mannes einnehmen zu dürfen, da sie sonst armengenössig würde. Pension gab es damals (1900) weder für Lehrer noch für Posthalter. Sie wurde probeweise für 1 Jahr gewählt. Mein Vater erzählte, wie die Mutter ihn verpflichtet und gebeten hätte, ihr beizustehen, damit sie nicht ins Armenhaus ziehen müssten, und welche Last das für ihn als 12-Jährigen bedeutet habe. Von da weg hätte für ihn das Erwachsenenleben begonnen. Er durfte seiner Mutter keine Sorgen machen, musste in der Schule der Beste sein und im Büro mithelfen, Telegramme austragen und die Mutter gegen den aufsässigen Briefträger unterstützen. Dieser hatte offenbar Mühe, eine Frau als Vorgesetzte zu akzeptieren. Kein Wunder, dass mein Vater ein extrem pflichtbewusster und übervorsichtiger Mensch wurde, dem finanzielle Sicherheit sehr viel bedeutete. „Du musst immer Geld haben, dann kann dir nichts passieren“, sagte der Vater mir einmal, als ich etwa 18 Jahre alt war und mir, in finanzieller Sicherheit aufgewachsen, wenig Sorgen machte, wie ich einen sicheren Beruf mit gutem Verdienst finden könnte. Irritiert wegen seiner ängstlichen Geldbezogenheit verstand ich meinen Vater nicht und verachtete ihn heimlich.
Erinnerungen
Ich habe viele Erinnerungen an meine Kinderzeit in Wolhusen. Mittags musste ich, bevor der Vater vom Dienst heimkam, essen und dann schlafen. Einmal ass ich, während die Mutter kochte, bei ihr in der Küche, sass auf einem kleinen Schemel, vor mir ein Tabourettli mit einem Teller Suppe drauf. Wir waren beide fröhlich und übermütig. Ich trommelte mit dem Löffel in die Suppe und verspritzte sie. Die Mutter reklamierte dauernd, aber ich wollte keine Suppe essen, sondern ein Dessert haben. Irgendwann drohte ich: „Wenn ich gross bin und du klein, kannst du dann die Suppe essen, und ich esse das Dessert“.
Eine weitere Erinnerung ist, dass ich die Mutter immer wieder plagte, indem ich einen Schlüssel versteckte. Einmal soll ich einen ins WC geworfen, ein anderes Mal in der Holzkiste versteckt haben. Die Mutter schimpfte, während sie suchte, und wir beide lachten dabei. Bedrohlich ist sie kaum gewesen, denn ich habe keine Erinnerungen an Angst, nur an Spass.
Auch wenn ich ins dunkle Kämmerli gesperrt wurde, empfand ich das nicht als schlimme Strafe, obwohl ich im Finstern alleine war. Ich setzte mich auf einen Berg schmutziger Wäsche und schlief friedlich, bis mein Vater heim kam und mich weckte. Eingesperrt wurde ich einmal, weil ich aufs Balkongeländer geklettert war, mich darauf gesetzt und an der Stange, die darüber angebracht war, gerüttelt und diese nach aussen gedrückte hatte. Also eine gefährliche Aktion, für die ich einen Denkzettel verdient hatte. Offenbar haben die Bestrafungen nicht in einer bedrohlichen Atmosphäre stattgefunden. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass meine Eltern mit mir böse waren, auch wenn sie schimpften und straften. Auch damals nicht, als wir bei einen Spaziergang auf einem Hügel picknickten. Neben unserer Bank stand der Wagen mit meiner kleinen Schwester drin. Als wir gegessen hatten, spielte ich, und brachte es zustande, dass der Kinderwagen den Abhang hinunter rollte, sich überschlug und meine Schwester ins Gras warf. Es war ihr nichts passiert, aber die Eltern waren natürlich sehr erschrocken und aufgeregt. Trotzdem kann ich mich nicht an eine Strafe erinnern, nur an Schreck, Aufregung und: „ Gott sei Dank, 's hed em nüd gmacht“. Ein anderes Mal fuhr mich mein Vater mit dem Velo vom Baden in der Emme heimwärts. Ich sass wie gewohnt vorne auf dem Sättelchen zwischen den Knien des Vaters und musste die Tasche mit dem Badezeug tragen. Irgendwie fiel sie mir hinunter, rutschte zwischen die Speichen, und wir beide stürzten auf die Strasse. Ich kann mich nur erinnern, dass der Vater sehr besorgt war, ich könnte verletzt sein, mir aber nicht böse war.
Einmal nahm er mich an den Tutensee mit, wo ich am Ufer spielte und er ein wenig hinausschwamm. Als er zurückschaute, sei ich verschwunden gewesen. Ich hatte ihm offenbar folgen wollen, obwohl er mir verboten hatte, ins Wasser zu gehen. Da er mich sofort fand, war mir nichts passiert, aber der Vater hatte einen Riesenschrecken bekommen, ich hätte ja ertrinken können.
Als ein Mädchen, das mich hütete, mit mir spazieren ging, achtete es zu wenig auf mich, als es mit dem Chauffeur eines Lastwagens plauderte. Ich muss vor der Kühlerhaube, mit der Anlasskurbel beschäftigt gewesen sein, als der Wagen anfuhr, mich umwarf und über mich weg rollte. Ich kam völlig unversehrt hinten wieder raus. Meine einzige Sorge sei der Federhut gewesen, der mir beim Unglück vom Kopf gefallen war, denn ich sei sofort aufgestanden und hätte danach geschrien. An „Schimpfis“ erinnere ich mich nicht, nur an den Schutzengel, dem auch ich, beim Nachtgebet, danken musste.
Als ich einmal mit meiner Mutter Streit hatte, drohte ich ihr, fort zu gehen, und mir eine liebere Mutter zu suchen. „Wenn du von mir weg willst, kannst du gehen, aber so wie du gekommen bist, nämlich nackt.“ Sie zog mich aus, und ich ging nackt die Treppe hinunter. Ob ich umgekehrt bin, oder meine Mutter mich geholt hat, weiss ich nicht mehr.
Den Kindergarten besuchte ich nur einen halben Tag, am Mittag kam ich völlig verschreckt nach Hause. Ich hatte Angst vor der schwarzen Frau mit der riesigen Haube und vor den vielen Kindern. Dazu war es dunkel im Raum, und ich fürchtete mich vor dieser Finsternis. Zum Glück hatte ich Läuse aufgelesen, sodass auch meine Mutter fand, das seien Gründe genug, den armen Hansi nicht weiter zu plagen. Wahrscheinlich war sie froh, mich noch zu Hause zu haben, denn ich war für sie ein fröhlicher, unternehmungslustiger und unterhaltsamer Gefährte.
Als meine Eltern zusammen den Sonntags-Gottesdienst besuchten, hütete mich eine befreundete Frau. Als sie zurückkamen, war ich noch nicht angezogen. Alles was die Frau mit mir machte, brachte mich zum Lachen und Strampeln. Sie kitzelte mich, ob absichtlich oder unabsichtlich, weiss ich nicht, so sehr, dass wir vor lauter Lachen nicht zum Anziehen kamen.
Vor Schulantritt hatte ich oft mit meinen Cousinen und dem Cousin, die nahe bei uns wohnten, spielen können. An einem Sonntag hatten wir den Stubenteppich über den Tisch gezogen und uns ein gemütliches Haus gebaut. Als die Eltern vom Kirchgang heimkamen und die ältere Schwester meiner Mutter, die Tante Milie, als erste in die Stube trat, und wegen der Unordnung zu schimpfen anfing, griff die Mutter ein, wehrte sich für uns und verbat ihrer Schwester, uns auszuschimpfen. Aber ihr Ruf war bei uns Kindern ruiniert. Jahrelang war sie für uns ein Schreckgespenst, streng mit sich selber und mit uns Kindern. Als sie mit etwa 60 Jahren einen Mann fand und mit ihm Arm in Arm spazieren ging, konnten meine Cousinen und meine Schwester nicht genug lachen und die Vorstellung, sie würde den Mann küssen und geküsst werden, war zum Schreien. Um so mehr freuten wir uns, dass sie im
Altersheim immer milder wurde und wir, als sie
mit 96 starb, um eine liebenswerte Tante Milie trauerten.
Wir wohnten mitten im Dorf in einem gemütlichen Holzhaus, in dem es immer nach der Backstube roch, die im Keller war. Ein österreichischer Bäckergeselle sang und jodelte gern und laut bei seiner Arbeit und verteilte uns Kindern grosszügig von seinem Teigabfall.
Vom Haus aus führte der Weg zum Schulhaus an der Post und an einer Käserei mit Schweinezucht vorbei. Als ich einmal nach er Schule mit Werni Banz, dem Schulfreund der ersten Klasse, heimging, stand vor dem Postbüro ein Pferd, das vor einen Karren gespannt war und auf den Meister warten musste, der in der Post zu tun hatte. Ich stieg auf das kleine Trittbrett, ergriff die Zügel, die zum Kopf des Pferdes führten, zog daran und schrie: „Hühü“, worauf das Pferd auf der Dorfstrasse wild zu rennen anfing. Das hatte ich natürlich nicht vorausgesehen und rannte ebenfalls, aber nach Hause. Am Abend erzählte der Vater beim Essen, dass jemand ein Pferd losgejagt hätte und man es nur mit Mühe am Ende des Dorfes hätte stoppen können. Dabei schaute er mich immer wieder fragend an, sodass ich am Schluss zugeben musste, dass ich der Jemand gewesen sei. Dafür bekam ich wie üblich „Kämmerli“ und wieder schlief ich ein, und wieder weckte mich der Vater, indem er mich am Knie kitzelte. Einsperren war offenbar auch ein erzieherisches Ritual zur gütlichen Erledigung schwieriger Situationen.
Auf dem Heimweg von der Schule sahen wir eines Tages vor der Molkerei neben unserem Hause einen Haufen toter Ratten liegen. Hinter der Molkerei, in der Schweinemästerei, stank es nicht nur grässlich, es wimmelte auch von Ratten. Vom Küchenbalkon aus konnten wir zuschauen, wie sie herumrannten und Futter suchten. Von Zeit zu Zeit fand eine grosse Rattenjagd statt. Eine solche hatten wir wegen der Schule verpasst. Umso mehr interessierte uns jetzt die Ausbeute. Wir untersuchten den Leichenhaufen gründlich, indem wir die Leichen an den Schwänzen hochhoben, die Wunden suchten und sie zählten. Das Ereignis war faszinierend und erregte in uns, nach meiner Erinnerung, nicht die geringsten Ekelgefühle.
Wenn hinter dem Haus ein Schwein geschlachtet wurde, ertönte jeweils ein jämmerliches Gequietsche, worauf ich sofort hinunter rannte, um zuzuschauen. Ein derart sensationelles Ereignis musste ich miterleben. An Gefühle von Abscheu, Bedauern oder Mitleid kann ich mich auch hier nicht erinnern.
Ich habe noch eine Reihe ähnlicher Erinnerungen, die alle den gleichen Charakter haben. Es sind die aufregenden Erlebnisse eines neugierigen, kleinen Buben, die immer ohne böse Folgen blieben, und wegen der toleranten und verständnisvollen Reaktionen der Eltern unbeschwerte Erinnerungen werden konnten. Ich habe gesucht, ob es auch irgendwelche dunkle Erinnerungen gäbe, wo ich Angst gehabt habe, wo ich schwer leiden musste, konnte aber nichts finden, ausser einem unheimlichen Fiebertraum, bei dem ich in einer rasenden Spirale in einen Trichter gesaugt wurde.
Die Eltern habe ich, auch wenn sie straften und schimpften, akzeptiert, und kaum je das Gefühl gehabt, es sei mir Unrecht geschehen. Hinter dem Bild, das in der Stube an der Wand hing, schaute eine Rute hervor. Mit dieser wurde ich bei ganz schlimmen Vergehen auf den nackten Po geschlagen. Das musste offenbar so sein, es gab in mir keine Zweifel, dass ich Schläge verdient hatte. Diese taten zwar kurz weh, deswegen schrie ich und gelobte Besserung. Die Eltern wussten wohl, warum sie mich schlugen. Ich hatte keine Zweifel, dass das so sein musste. Da sie mich nicht durch Liebesentzug bestraften, sondern durch klare, begrenzte Massnahmen, haben sie mich Disziplin gelehrt, ohne mir Angst einzupflanzen.
Wie es für meine Schwester war, weiss ich nicht. Sie wurde sicher ebenso geliebt wie ich, machte weniger Dummheiten und wurde nie, oder ganz selten mit der Rute oder mit Einsperren bestraft. Trotzdem war sie schon als Kind ängstlicher und unsicherer als ich und ist es bis ins hohe Alter geblieben.
Das Grundvertrauen der Kinder in sich selber, in die Welt und in die Menschen werde in den ersten Lebensjahren aufgebaut, lernte ich später. Bei mir war das sicher der Fall, aber ich habe auch Leitlinien für das Verhalten mitbekommen, habe gehorchen und Rücksicht nehmen gelernt. Dadurch wurden mein Tätigkeitsdrang, meine Neugierde, die Lebens- und Kontaktfreude aber nicht unterdrückt. Alfred Adler, der in seiner Erziehungsberatungsstelle oft erlebte, wie Geschwister sich unterschiedlich, oft gegensätzlich, entwickelten, ist dieser Frage intensiv nachgegangen. Seine Erklärung scheint mir den charakterlichen Unterschied zwischen mir und meiner Schwester zu erklären. Auch wenn die Eltern uns Kinder im Prinzip gleich erziehen wollen, behandelten sie uns doch sehr verschieden. Ich machte ihnen viel Freude durch meine Lebhaftigkeit, meine Unternehmungslust und Fröhlichkeit, damit, dass ich ein anständiger Bub war, in der Schule gut nachkam und kaum grössere Beschwerden eingingen. Auf die gleiche Art konnte meine Schwester nicht leben.
Meine Schwester
Als Mädchen hatte sie ein total anderes Lebensumfeld. Sie spielte mit Freundinnen in der Wohnung und im Garten, mit Puppen, „Müeterlis“, nicht „ Indianerlis“, Singspiele „Marienchen sass auf einem Stein“, Hüpfspiele, „Theäterlis“, „Seiligompe“. Dazu wurde viel gestrickt und genäht. Mädchen mussten viel braver sein als Buben, leiser, anpassungsfähiger, höflicher, nachgiebiger, bescheidener, weniger vorlaut, wie Mädchen und Frauen eben zu sein hatten. Wenn Marta diesem Frauenbild entsprach, erhielt sie Anerkennung, Lob und Bestätigung. Ihre Leistungen bestanden in Anpassung und Unterwerfung und das war viel stärker mit Angst und Selbstverleugnung verbunden. So wurde sie eher ängstlich, unselbständig und hilfsbedürftig und erhielt von den Eltern die ersehnte Aufmerksamkeit und Unterstützung. Sie musste den Weg der Unterwerfung gehen, um von den Eltern auch Beachtung und Zuwendung zu bekommen. Adler fand die Kurzformulierung: Wenn der Weg der Stärke schon besetzt ist, findet das nachfolgende Kind nicht selten den Weg der Schwäche und erhält dadurch die gewünschte Beachtung. Beachtet und geschätzt werden ist ein menschliches Grundbedürfnis. Als Bub hatte ich in dieser Beziehung sicher einen Vorteil. Ich war weniger unter Anpassungsdruck und wurde in der Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbständigkeit weniger gebremst. Meine Schwester wurde nach den damaligen Vorstellungen zu einem anständigen, folgsamen, pflichtbewussten, bescheidenen und geduldigen Mädchen erzogen und ist es weitgehend geblieben, auch als erwachsener Mensch
Beim Schreiben tauchen laufend neue, gute Erinnerungen auf, und es macht mich froh, an die Kinderzeit in Wolhusen zu denken. Dabei spielt die 2 Jahre jüngere Schwester kaum eine Rolle. Zu anderen Kindern und Erwachsenen kommen mehr Einfälle. Marta lief bescheiden, ängstlich, empfindsam, lieb und für mich problemlos nebenher. Hier müsste eigentlich Marta erzählen können.
Als die Familie nach Kriens umziehen musste, war es für den Vater und die Mutter eine grosse Freude. Für mich war es ein weiteres spannendes Erlebnis, dem ich ohne Angst und Abschiedsschmerz offen und neugierig entgegen ging.
Meine Grosseltern und der Abschied von Wolhusen 1932
Die letzten Wochen der ersten Klasse war ich in Wolhusen bei den Grosseltern untergebracht, da die Eltern schon nach Kriens gezogen waren. Mit der Grossmutter hatte ich kaum Kontakt, sie sprach sehr wenig, der Grossvater ebenfalls, aber wenn er etwas sagte, dann sehr laut. Ich fühlte mich nicht wohl bei ihnen und war froh, als der Vater mich abholte. Wahrscheinlich redete mein Grossvater so laut, damit seine schwerhörige Frau ihn verstehen konnte. Mich verstand sie wohl gar nicht, aber das begriff ich damals nicht und vermute heute, wo ich selber Hörschwierigkeiten habe, dass dies die Ursache der bedrückenden Atmosphäre gewesen sein könnte. Ob es wohl angenehmer gewesen wäre, wenn mir die Grosseltern die Situation erklärt hätten? Sicher hätte ich mich bemüht, laut und deutlich zu sprechen, und der Kontakt wäre vermutlich intensiver gewesen. Dass sie es nicht versuchten, kann ich heute gut verstehen, denn es fällt mir heute oft auch schwer, meine Situation als Schwerhöriger zu erklären. Es sind nicht nur Hemmungen, sich in den Mittelpunkt zu stellen und eine Gesprächssituation zu verkomplizieren, sondern auch die Erfahrung, dass das häufig nichts bringt. Viele Menschen werden sprachlich immer wieder „rückfällig“ und reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und das ist für Hörbehinderte häufig zu schnell, zu leise und zu undeutlich. Wenn man das häufig erlebt, tut man, wie wenn man verstanden hätte und meidet mit der Zeit Menschen und Situationen, bei denen man im Gespräch nicht mitkommt. Dass ich nicht recht mitkomme, bemerke ich oft erst, wenn plötzlich alles lacht, und ich nicht verstehe warum.
Nach dem letzten Schultag der ersten Klasse in Wolhusen kam der Vater mich holen. Die Fahrt mit ihm in der Eisenbahn nach Luzern wurde ein Fest. Nicht nur, weil wir wieder beieinander waren, sondern auch, weil sonst niemand im Abteil war und ich das Fenster öffnen und hinausschauen durfte. Vorne qualmte eine Dampflokomotive, deren Rauch über uns wegzog. In jedem Tunnel wurde dieser hinuntergedrückt, sodass man im Wagen fast erstickte, wenn man das Fenster nicht rechtzeitig geschlossen hatte. Rechtzeitig hiess für mich natürlich im letzten Moment. Es war ein spannendes Spiel, und ich wundere mich noch heute, dass mein Vater das nicht nur zuliess, sondern selbst auch genoss. Für Spiele mit der Eisenbahn hatte er schon früher eine Schwäche gehabt. Als mir das Christkind die erste Eisenbahn brachte, zeigte mir der Vater während des ganzen Abends, wie man damit spielen könne, so lange, bis ich heulte, weil es ja meine Eisenbahn war. Auch hat er mir auf Spaziergängen gezeigt, wie spannend es ist von der Eisenbahnüberführung aus einen Stein in den Kamin der Loki fallen zu lassen. Im letzten Moment, knapp bevor der Rauch nach der Brücke einem ins Gesicht fährt, muss man den Stein fallen lassen. Nur dann besteht die Chance, dass man den Kamin trifft und nicht ein Kaminfeger-Gesicht bekommt. Leider war das ein seltenes Spiel, da sich nur eine steile Steigung dafür eignete, da wo der „Hutteler“ (der Zug nach Huttwil) langsamer fahren musste.
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